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„Das katholische Abenteuer“ von Matussek: mutige Streitschrift eines „Querdenkers“

Buch-Daten:
MATTHIAS MATUSSEK
Das katholische Abenteuer. Eine Provokation.
Erscheinungsdatum: Mai 2011.
Spiegel-Buchverlag (Hamburg) und bei DVA (Deutsche Verlagsanstalt, München).
368 Seiten, Preis 19,99 €.
ISBN 978-3-421-04514-0
 
Ausführliche Besprechung des Matussek-Buches von Felizitas Küble
 

Der bekannte Reporter Matthias Matussek, der bis 2008 als Kulturchef des linksliberalen „Spiegel“ tätig war und nach wie vor als Journalist für das Hamburger Nachrichtenmagazin arbeitet, war schon früher für Überraschungen gut.

Mit seiner jüngsten Streitschrift „Das katholische Abenteuer“, die ausdrücklich als „Spiegel-Buch“ erscheint (auf der Titelseite vermerkt), hat er seinem weithin konservativ geprägten publizistischen Wirken zweifellos die Krone aufgesetzt, eine katholische noch dazu, denn der Autor macht kein Geheimnis aus seiner Begeisterung für Glaube, Kirche und Sakramente.

Matussek ist gewiß kein typischer „Spiegel“-Reporter, sondern ein unabhängiger, zeitgeistkritischer Kopf. Das konnte der Fernsehzuschauer auch bei der Talkshow „Lanz“ am 12. Mai 2011 erleben: Es ging dort um Gunter Sachs im besonderen und Selbstmord   –  gern als „Freitod“ verharmlost  –   im allgemeinen. Matussek stellte sich quer gegen den Diskussionstrend und erklärte: „Wir dürfen unseren Tod nicht selbst wählen. Gott ist der Herr über Leben und Tod!“  – Aufgrund dieser für Christen an sich selbstverständlichen Aussage wurde er in der Runde scharf attackiert; die katholische Kirche wurde sogar als „kriminelle Vereinigung“ beschimpft.Zurück zu Matusseks mitreißendem und zugleich inhaltsreichem Buch: es ist eine durchaus gelungene Kombination von Kampf- und Bekenntnisschrift, eine anregende und „aufregende“ Mischung aus stichhaltigen Argumenten, persönlichen Erinne-rungen, Reportagen aus aller Welt und unmißverständlichen Kommentaren zum Zeitgeschehen.

Doch der nonkonforme Kulturjournalist beschränkt sich nicht auf scharfsinnige Zeitgeistkritik, er bleibt auch nicht bei prokirchlicher Apologetik stehen, sondern stellt das Frohmachende und Sinnerfüllende des katholischen Glaubens heraus. Vor allem Eucharistie und Beichte rückt er in ein helles Licht und erwähnt offenherzig seine persönliche Glaubenspraxis inklusive regelmäßigem Sonntagskirchgang und Beichte  –  heute unter Katholiken längst nicht mehr selbstverständlich.

Matusseks Buch ist persönlich, gerät aber nicht ins Peinliche; es ist streitbar, verfällt jedoch keiner verbissenen Dauerpolemik; es ist bekenntnisfreudig, ohne aufdringlich zu wirken; es widersteht dem gängigen Zeitgeist, verwendet aber geradezu packend die Sprache unserer Zeit; es greift aktuelle Debatten auf, ohne  grundsätzliche Themen zu vernachlässigen.

Diese flotte „Kampfschrift“ ist natürlich nicht vornehmlich für Theologen verfaßt, weder vom Stoff noch vom Stil her. Das Buch eignet sich  – etwa hinsichtlich intellektuellem Niveau, Themenwahl und Sprachschatz her  –  vom bodenständigen bis hin zum bildungsbürgerlichen Personenkreis (quasi vom Handwerker bis zum Studienrat), wobei es auch für aufgeschlossene Jugendliche ab 15 oder 16 Jahren und  für Studenten gut lesbar ist, zumal Matusseks Sprache sehr fesselnd, anschaulich, „reporterhaft“ und kraftvoll wirkt, also bei jungen Leuten den richtigen Ton findet und zugleich seriös bleibt, ohne sich einem „coolen“ Jugendjargon anzubiedern.

Vielleicht war es gerade seine jahrzehntelange Reportertätigkeit, die Matussek   –  nach zwischenzeitlichen Umwegen und Abwegen in den Marxismus und die 68er Ideologie  – geholfen hat, wieder zum Glauben seiner Kindheit und Schülerzeit zurückzukehren, zum katholischen Glauben in seiner Klarheit und Fülle  – und in seiner Katholizität, seiner universalen Geltung und Ausbreitung.  Jedenfalls schreibt er in seinem Vorwort: „Als Reporter war ich immer schon fasziniert vom religiösen Urbedürfnis der Menschen in allen Winkeln der Erde.“ (S. 10)  – Derartige Erfahrungen eignen sich freilich kaum zur Aufrechterhaltung eines materialistisch-marxistischen Weltbildes.

Außerdem berichtet der Autor in seinem Editorial, daß er sich als Schriftsteller zunehmend zeitkritisch mit verhängnisvollen Zerfallserscheinungen wesentlicher menschlicher Bindungen befaßte: 1997 geißelte er in seiner Streitschrift „Die vaterlose Gesellschaft“ eine zunehmende Verdrängung und Diffamierung der Väterlichkeit und Männlichkeit in Medien und Gesellschaft. Diese feminismuskritische Publikation ist ein Hinweis darauf, daß der Verfasser  – obgleich schon damals „Spiegel“-Redakteur  –  nicht bereit war, sich dem üblichen „Mainstream“ feige anzupassen.

Das  zeigte sich auch in seinem 1998 erschienenen Porträt über Erzbischof Johannes Dyba, das unter dem Titel „Die Axt Gottes“ im „Spiegel“ veröffentlicht wurde und reichlich aus dem Rahmen des dort sonst Üblichen fiel, war der Text doch eine seitenlange Würdigung, ja fast eine Huldigung an den Fuldaer Oberhirten. Seitdem galt Matussek in glaubenskonservativen Kreisen (auch bei Evangelikalen) als eine Art journalistischer „Geheimtip“.

Der damalige aufsehenerregende Artikel ist nun auch in seinem Buch veröffentlicht (S.192 ff). Im jetzigen Vorwort dazu schreibt der Autor über Erzbischof Dyba: „Ich glaube, man merkt dem folgenden Text an, wie sehr er mich beeindruckt hat und welche Qualitäten es sind, die ich an manchen unserer Bischöfe heute vermisse.“ (191)

Danach folgte sein patriotischen Buch „Wir Deutschen“ mit dem halb-ironischen Untertitel: „Warum die anderen uns gern haben können“: In diesem Werk setzt sich Matussek  für ein erneuertes Verständnis von Nation und Vaterland ein, für ein selbstbewußtes Ja zum eigenen Land. Auch diese nonkonforme Schrift des katholischen „Querdenkers“ paßte nicht in unsere weitgehend anti-national geprägte Politik und  „veröffentlichte Meinung“, in der patriotische Standpunkte nicht selten mit der „braunen Keule“ attackiert werden.

Nach dem Ja zur Familie, zur Bedeutung des Vaters und der Väterlichkeit, nach dem Ja zu Nation und Vaterland folgte im Mai 2011 also das dritte „Ja-Buch“: ein glasklares, bekenntnisfrohes Ja zum katholischen Glauben.  Auch dieses „Unterfangen“  ist zweifellos ein gezielter Stich ins gesellschaftliche Wespennest, so daß der Untertitel des Buches („Eine Provokation“) durchaus dem Inhalt entspricht. Das relativ dickleibige 368-Seiten-Werk erweist sich als scharfsinnigen Rundumschlag gegen den Zeitgeist, als geistreicher, oft auch humorvoller Angriff auf den „Mainstream“ hierzulande  –  insgesamt ein großer Wurf, wenngleich mit kleinen Schwächen, wie sie wohl in kaum einem Buch fehlen.

„Talent zur Transzendenz verkümmert“

Zurück zu Matusseks Editorial, in dem er sein dreifaches, „buchgewordenes“  Ja erläutert: zur Familie, zur Nation und zum Glauben: „Warum Glaube? Weil mich die Bekenntnisarmut unseres Betriebs anödet, diese Dauerironie, in der jeder Standpunkt zur Tänzelei wird und jeder Gläubige zur Lachnummer, der aus der Zeit gefallen ist.“ (S.11)

Der im westfälischen Münster geborene Verfasser spricht mehrfach positiv über sein kernkatholisches Elternhaus: „Ich beneide meine Eltern um die Unbeirrbarkeit ihres Gottvertrauens, die sie hatten und die mir leider manchmal fehlt. Mein Glaube ist momenthafter, nervöser. Doch letztlich ist er eine Notwendigkeit für mich. Er macht Sinn. Nicht zuletzt bedeutet er Trost und Hoffnung.“(11)

Matussek weiß, daß dieser geistige Sinn für die übernatürliche Welt immer mehr verschwindet: „In unseren unglücklich aufgeklärten Breiten dagegen ist das Talent zur Transzendenz verkümmert, nahezu erloschen. Nur noch 13% der Katholiken gehen in die Kirche.“ (12)

Nach seinem Vorwort legt der Autor gleich „heiß“ los, wie der Abschnitt „Training mit dem Teufel“ vermuten läßt, dessen erster Abschnitt mit den Worten beginnt:

„Ein Tod ist zu beklagen. Die Verblichene starb nach langem Siechtum, unbemerkt, in einem vergessenen Winkel der Gesellschaft. Sie hatte ihre großen Tage. Sie hat glühende Reden beflügelt, sie hat Menschen in den Staub gezwungen und um Vergebung murmeln lassen…“ (15)   –   Einige Sätze weiter erfährt der Leser die Lösung: „Die Rede ist – natürlich  – von der Sünde.“

„Ein unheimlicher Unschuldswahn“

Matussek stellt realitätsnah fest: „Die Sünde ist aus der öffentlichen Rede verschwunden…Von „Sünde“ spricht keiner mehr…Sie wird nicht mehr ernst genommen. Man könnte sagen: Die Sünde hat ein Imageproblem.“  – Aus Sicht des Kulturjournalisten ist dieses mangelnde Sündenbewußtsein ein echtes Problem: „Mit der Sünde ist ein existentielles Abenteuer verloren gegangen. Ein unheimlicher Unschuldswahn hat sich über unsere überraschungsfreie Gesellschaft gelegt.“ (15)

Dieser „Unschuldswahn“ ist eine Folge der allgemeinen Glaubensverdunstung. Matussek bezeichnet Sünde als  „Verletzung einer kosmischen Ur-Ordnung“ (40) und als „Vertrauensbruch“ gegenüber dem Schöpfer:

„Sünde ist Vertrauensbruch. Gott versteht in diesem Punkt keinen Spaß. Der Sünder schaut in einen metaphysischen Abgrund. Allerdings: wo es keinen Gott gibt, gibt es keine Sünde. Oder doch? Heute ist Sünde allenfalls eine Art Verstoß gegen die soziale Straßenverkehrsordnung und  –  soweit Schuld und Seelenqual und Gewissensbisse mit ihr verknüpft sind  –   eine Sache für Therapeuten und in jedem Fall verhandelbar.“ (16)

„Einst bedeutete Sünde die Markierung zwischen Gut und Böse. Wer dagegen heute sagt „Ich habe gesündigt“, meint damit Pralinen und Eisbein mit Sauerkraut  – und  die Hölle, die ihn erwartet, besteht aus Sodbrennen.“ (33)

Doch für den Autor ist eines klar: „Das Sittengesetz funktioniert vor allem über das Sündenbewußtsein, das die Entscheidung zwischen Gut und Böse trifft. Ohne den Gedanken an Gott ist dauerhaftes  moralisches Handeln nicht möglich, das wußte schon der Aufklärer Immanuel Kant, dessen tröstender Lieblingspsalm war: ‚Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts fehlen.’ “ (18)

Auf den folgenden Seiten befaßt sich Matussek mit den Sieben Wurzelsünden, die er allerdings begrifflich unrichtig als „Todsünden“ bezeichnet, wenngleich Wurzelsünden zweifellos eine häufige Ursache von Todsünden sind.   –  In diesen „Lasterkatalogen“ finden sich einige treffliche Erkenntnisse, etwa folgende:

„Der universelle Schönheitskult schlägt Kapital aus der todtraurigen Todsünde Eitelkeit in noch nie dagewesenem Maße…Dieser Kampf einer alternden westlichen Gesellschaft ist tragisch und komisch zugleich. Wir setzen keine Kinder mehr in die Welt, sondern wollen die ewige Jugend für uns selber.“ (22)

Wir sexualisieren uns zu Tode

Auch die „Todsünde Wollust“ knöpft sich der Kulturjournalist vor und stellt zunächst fest: „Die Wollust hat sich totgesiegt. Sie hat alle Geheimnisse verloren. Sie hat Staatsmänner zu Deppen gemacht, Karrieren ruiniert, Ehen in Trümmerhaufen verwandelt. Sie hat sogar, man sollte es nicht fassen, Kirchenmänner verführt. Kurz: sie hat die letzten Masken der Lust abgelegt.“ (27)

Matussek legt damit das Fazit nahe: Wir sexualisieren uns zu Tode. Das Maß ist nicht nur voll, sondern übervoll:

„Womit soll der Dämon des Begehrens noch wüten, wenn alle bereits im Swingerclub abhängen und sich dort zu Tode gähnen?  –  Schon bevor die Hysterisierung um die Sexualität begann, zunächst mit Freud, dann den Ritualen der 68er gegen die sogenannte repressive Sexualmoral, mahnte Schopenhauer zur Gelassenheit: ‚Wozu der Lärm? Wozu das Drängen, Toben, die Angst und die Not? Es handelt sich ja bloß darum, daß jeder Hans seine Grete finde.’  – Kann man die Wollust endgültiger und cooler zur Hölle schicken?“ (29)

Auch mit der Wurzelsünde Trägheit geht Matussek hart ins Gericht, genauer: in eine Therapie nach Art der Mönche: „Sie empfahlen ein Rezept gegen die Todsünde Trägheit. Man soll sie auf einen gegenüberstehenden Stuhl platzieren und mir ihr in einen Dialog treten. Das klingt nach moderner Gestalttherapie.“ (39)

Doch nicht der Therapeut, sondern der Beichtvater befreit von Schuld im Auftrag Christi, das weiß auch der Autor: „Für Katholiken bietet sich der Beichtstuhl als Ort göttlicher Vergebung an. Die Stille, das Holzgitter, das Murmeln des Priesters, der nach einigem Nachfragen  –  Präzision ist wichtig   –   sein ‚Ego te absolvo’ spricht. ‚Welchen ihr die Sünden erlaßt, denen sind sie erlassen’, sagte Jesus seinen Jüngern. Das alles in der Intimität der Ohrenbeichte, fernab vom Geständnistrubel bei Facebook.“ (40)

Ein weiteres Beispiel dafür, daß der Verfasser lebensfrisch von der heutigen Alltagsrealität ausgeht  – und doch die Forderungen des Ewigen ernstnimmt.

„Mich interessiert das Geheimnis.“

Nach dem „Lasterkatalog“ folgt Matusseks eindrucksvolles persönliches Bekenntnis zu seinem katholischen Denken, Fühlen und Glauben (ab S. 43 ff):

„Man wird nach dieser Buß- und Strafpredigt eines unschwer erkennen können:

Ich bin katholisch, und das ist auch gut so. Ich habe mir die Sache nicht ausgesucht. Sie ist mir in mein Gemüt gelegt, von Kindheit an, so sehr, dass sie mir vorkommt wie angeboren…Tief in mir verwurzelt.

Für dieses Bekenntnis den gleichen Beifall zu kassieren wie Berlins Party-Bürgermeister Klaus Wowereit für das seiner sexuellen Orientierung erwarte ich gar nicht – aber ich will ja auch keine Wahlen gewinnen. Katholizismus, ganz besonders in diesen Tagen, ist nicht mehrheitsfähig. Begeben wir Katholiken uns auf den Marktplatz, müssen wir Zickzack rennen, denn es wird aus allen Rohren gefeuert. Doch natürlich bleibe ich katholisch. Geht gar nicht anders. Jetzt erst recht. 

Mein Katholizismus ist übrigens nicht demokratisch. Er ist nicht konsensabhängig. Er ist keine Sache von Gremien und Thesenpapieren.  Glaubenswahrheiten sind keine Abstimmungssache.“

Das ist zweifellos bekenntnisfreudiger Klartext, wobei der Autor einräumt, daß er zeitweise den Glauben seiner Kindheit verlassen hatte, dann wieder konservativer wurde und nun begeistert katholisch ist: „Ich bin kein Vorzeige-Katholik, aber dennoch bin ich seit neuestem so leidenschaftlich katholisch, wie ich vor vierzig Jahren Marxist war.“

Matthias Matussek scheut auch nicht den Vergleich zum heutigen Protestantismus:

„Die bequemere der christlichen Konfessionen ist derzeit eindeutig die protestantische. Ihre Bekenntnisse tropfen ins gesellschaftliche Gewebe in homöopathischen und jederzeit gut verträglichen Verdünnungen. Sie ist fortschrittlicher Mainstream und ihre Lebenshaltung gutbürgerlich. Ihre Pastoren laufen mit der Zeit, sie heiraten und lassen sich scheiden, sie fahren ab und zu betrunken Auto, nichts, was irgendeinen groß aufregen würde, im Gegenteil, sie werden geliebt dafür, dass sie sind wie alle. Sie verlangen nichts, sondern schreiben Erbauungsliteratur. Hat mich nie interessiert. Mich interessiert der Streit. Mich interessiert das Bekenntnis. Mich interessiert das Geheimnis.“

Diese glasklare Haltung des Hamburger Journalisten kommt nicht von ungefähr; sie wurzelt nicht zuletzt in Kindheitserfahrungen, geprägt von familiärer und religiöser Geborgenheit und Sicherheit:

„Ich wuchs auf mit Fronleichnam und Marienandacht, mit Rosenkranz und Beichte. Die Messen waren lang und auf Lateinisch, und ich war dennoch fasziniert. Wer sagt, dass Kinder alles verstehen müssen, dass nicht auch sie mehr ahnen wollen als wissen?  Wer sagt, dass sie so unglaublich interessiert an Bastelarbeiten im Altarraum sind? Ich mochte schon als Kind die Könner, die Frommen, die Anderen.

Wir beteten zu Tisch und vorm Zu-Bett-Gehen. Vor Reisen beteten wir zum heiligen Christophorus und beim Verlust von Schlüsseln oder Portemonnaies zum heiligen Antonius. Eines Tages  –  im Italienurlaub  –  verlor mein Vater die Brille im Meer. Wir versammelten uns zum Antonius-Gebet am Strand. Danach ging er wieder in die Wellen, griff in die braune Brühe und hielt die Brille in der Hand. Ein Wunder  –  und ich war dabei! Meine evangelischen Spielgefährten haben so etwas nie erlebt.

Meine religiöse Kindheit war anregend, abenteuerlich, theaterhaft. Unsere Rollenmodelle waren die Heiligen. Unsere Kindheit war gleichzeitig frommer Hokuspokus und von hoher religiöser Innigkeit. Meine Seele war eine dramatisch beleuchtete barocke Landschaft, die aus Sonne und Wolken bestand –  und eben den Heiligen mit ihren abenteuerlichen Lebensläufen, die in ihrem Vorbildcharakter schon Goethe faszinierten. ‚Man möchte doch wohl gut heißen, dass es so viele Heilige gibt’, schrieb er.“

„Zum Altare Gottes will ich treten…“

Für den kleinen Matthias war vor allem der Ministrantendienst eine faszinierende Erfahrung; seine Schilderung fromm-froher Kindheitsjahre verknüpft er mit skeptischem Nachdenken über die Zeit danach, zumal die nachkonziliare Kirchenkrise:

„Messdiener sein  –  das war mein erster Berufswunsch. Meine älteren Brüder waren Messdiener –  da wollte ich hin. Raus aus der Kirchenbank, hinein in den Altarraum, hinauf auf die Altarstufen, dorthin, wo das Allerheiligste ist, das Geheimnis schlechthin. Bis es so weit war, übte ich, damals in den späten fünfziger Jahren. Meine Mutter hatte uns Kutten genäht, in denen spielten wir Messe, mein jüngerer Bruder und ich. Einer der älteren machte den Priester.

Es war die Zeit vor dem Zweiten Vatikanum, die Priester wandten den Messdienern und der Gemeinde den Rücken zu  –  und alle schauten hin zum Tabernakel, der im Hochaltar untergebracht war. Wie geheimnisvoll und wie heilig das war. Messdiener zu sein bedeutete, teilzuhaben, viel näher, als es von der Bank aus möglich war.

Ein versunkenes Zeitalter, diese Jahre vor dem Zweiten Vatikanum, als der Katholizismus Volksreligion war. Sie sind in Deutschland vorbei. Die Weltkirche wächst, doch in unseren Breiten leeren sich die Kirchen. Es ist ja nicht so, dass sich Gläubige und Atheisten unversöhnt gegenüber stehen. Bei uns dämmern Gläubige hinüber in den Unglauben  –  und Agnostiker lassen sich plötzlich entflammen.

Der Glaube flammt auf, wenn es um Rituale des Trostes geht oder der Freude, um Beerdigungen oder Hochzeiten und Geburten, dann meldet er sich zurück in diesen Zeiten aufgelöster Bindungen, als ob er nur geglimmt hätte.

Und er flammt immer auf mit einem gewaltigen Bedürfnis nach Form. Wie gehen wir mit damit um?  Bewahren, was noch steht – oder alles einreißen?
Das ist die alles entscheidende Frage, vor der die Kirche steht.“

Ab Seite 73 berichtet der Verfasser von seinen „Wilden Jahren“, die zeitlich und inhaltlich mit der 68er Revolte zusammenfallen, die auch ihn nicht unbeeinflußt ließ: „Ich hatte im Marxismus-Leninismus eine neue Religion entdeckt.“  – Doch bloß verstandesorientierte Theoriediskussionen und Marx-Lektüre allein vermochten ihn nicht zu erfüllen, weshalb er sich sodann der pseudo-romantischen Blumenkinder-Hippie-Gegenkultur zuwandte  – einschließlich der Subkultur von Joints und LSD-Trips sowie der fast obligatorischen „Indienfahrt“.

Von Glaube und Kirchgang war der spätpubertäre 68er damals weit entfernt, doch immerhin begann er ein ernsthaftes Studium und fand so allmählich wieder ins bürgerliche Leben zurück. Doch für sein „seelisches Gleichgewicht“ sorgte, wie er schrieb, vor allem sein Vater, ein CDU-Bürgermeister, dem er in diesem Buch an mehreren Stellen ein dankbares Denkmal setzt:

„Es waren die Tage vor Ostern. Mein Vater kam mich besuchen. Er war voller Mitgefühl. Auf langen Spaziergängen redete er mit mir, ernst und sanft und  liebevoll. Wir beteten. Und in diesen Tagen der Passion spürte ich, daß es tatsächlich auch für mich die Hoffnung auf eine Auferstehung geben konnte.“ (76)

Nach dieser Schilderung seiner persönlichen Irrungen und (Ver-)Wirrungen findet der Autor wieder zu grundsätzlichen Fragestellungen zurück, etwa nach dem christlichen Menschenbild, demzufolge wir Geschöpfe und Ebenbild Gottes sind und daher eine unantastbare Würde besitzen:

„Ohne diese Streckung einer Gesellschaft auf Ideale hin kann sie nicht funktionieren. Ohne diese Werte, die doch oft gerade im Glauben verkapselt sind, gibt es keine Zukunft  – und die Anzeichen mehren sich, daß wir säkularen, glaubenslosen Gesellschaften sie uns zunehmend verbauen.

Wenn wir die Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben als Gottes Geschöpfe nicht mehr haben, werden wir den Menschen als züchtbares Ersatzteillager, als Rohmaterial, als seelenlose Biomaschine sehen, mit der alle Experimente erlaubt sind. Daher ist der Einspruch der Kirchen etwa in Fragen der PID, der Präimplantations-Diagnostik ein zutiefst humaner. Wir dürfen uns nicht anmaßen, Leben danach zu beurteilen, ob es wert oder unwert ist.“ (92)

Bruchlandung für die „Religion“ des Atheismus

Matussek befaßt sich überdies kritisch mit jenem atheistischen Neodarwinismus, der einen Schöpfergott ausschließt (97 ff),  aber auch mit den gottlosen Ideologien des

Nationalsozialismus und Kommunismus, die vorgeben, eine „wissenschaftliche Weltanschauung“ zu sein; diese sei aber, so der Autor, „sichtbar gescheitert“: „Sie war in Unterversorgung und Massengräbern bruchgelandet. Nie hat eine Religion derart gewütet und verheert und gemordet wie die Religion des Atheismus, bei den Nazis genauso wie bei den Kommunisten.“(102)

Doch nach dem Kommunismus folgte vielfach der Konsumismus: kein theoretischer, vielmehr ein praktischer Atheismus mit oberflächlichem Genußleben als oberstem Ersatzgott. Auch hier greift Matussek zur scharfen Feder:

„Jetzt scheint sich aber eine neue Diktatur etabliert zu haben, nämlich die Spießigkeit einer Habsuchtsgesellschaft ohne jede Transzendenz, das heißt: ohne Hoffnung. Wir erleben den grassierenden religiösen Analphabetismus und das spirituelle Desinteresse der westlichen Überflußgesellschaft.“ (103)

Die religiöse Schwäche des Westens ist zugleich ein ernsthaftes Problem in der Abwehr der islamischen Gefahr, denn eine oberflächliche Genußgesellschaft kann dieser massiven religionspolitischen Herausforderung nichts Positives entgegensetzen, da ihr eigenen Ideale und Grundsätze fehlen. Zugleich sorgt die Meinungsdiktatur der „Politische Korrektheit“ dafür, daß die islamische Bedrohung    kaum erkannt und noch weniger öffentlich thematisiert wird.

Auch hier sorgt Matussek Buch für Klarheit. Im Kapitel „Ausweitung der Kampfzone“ (123 ff.) befaßt der Autor sich mit dem Islam und der Christenverfolgung in dessen Machtbereich:

„Nach der Mitternachtsmesse am Silvesterfest 2010 explodiert eine Autobombe vor einer christlich-koptischen Kirche im ägyptischen Alexandria und reißt 21 Menschen in den Tod. Es ist nur eine kleine Hassbekundung von vielen in einem langjährigen Krieg, der aus Terror, Vertreibung und Diskriminierung besteht.“

Matussek beschränkt sich nicht auf einzelne Ereignisse, sondern nennt allgemeine Fakten:

„Für die Christen des Orient ist das vergangene Jahrzehnt eine Tragödie gewesen. Vor hundert Jahren bestand die Bevölkerung zwischen Mittelmeer und Zweistromland zu einem Fünftel aus Christen. Heute sind es nur noch rund fünf Prozent.“  –  „Heute leben in der Türkei noch rund 100.000 Christen. Vor hundert Jahren waren es zwei Millionen.“

Für den Verfasser steht außer Frage, daß die im Westen weitverbreitete Verharmlosung des Islam keine Lösung sein kann: „Bei uns ist man vollauf damit beschäftigt, den Islam mit großen Umarmungen zu entschärfen, und seine Kritiker als Panikmacher zu diffamieren. Offenbar möchte man den Islam so lange ans Herz drücken, bis alles Kriegerische aus ihm abgeflossen ist.“

Dieser gängigen Schönfärberei stellt Matussek die Frage entgegen:  „Was aber, wenn wir es mit einer Religion zu tun haben, die sich als Gefechtsideologie versteht und an aufklärerischen und demokratischen Domestizierungen überhaupt nicht interessiert ist?“

Matussek und Safranski im Religionsgespräch

Als interessant und gehaltvoll erweist sich auch Matusseks schriftlich niedergelegtes Zwiegespräch mit dem Philosophen und Schriftsteller Rüdiger Safranski; es geht darin um „heiße und kalte Religion“,  Christentum, Islam und um den „Kulturkanon des Katholizismus“ (147 ff).

Safranski, bekannt u. a. durch diverse Schiller-Biografien und die Moderation des „Philosophischen Quartetts“ im ZDF –  ist offensichtlich ein christentumsfreundlicher Agnostiker, dem der Glaube an einen persönlichen Gott zwar fehlt (er bekennt sich lediglich zu einem diffusen „göttlichen Prinzip“), der aber die geistig-kulturellen Prinzipien und Ideale des Christentums  – vor allem der katholischen Kirche  –  deutlich zu würdigen weiß. Den sog. „neuen Atheismus“ kritisiert er scharf: „Heute ist der Atheismus eng geworden, dogmatisch, fantasielos. Deswegen muß man jetzt sagen: Gott ist nicht tot.“

Glaube ist freilich mehr als Kultur, Liturgie mehr als Schönheit, Gebete mehr als Poesie, die Kirche gewiß mehr als eine Art pädagogisch-soziale Anstalt. Aus Matusseks Gesprächsbeiträgen geht dieser Primat des Glaubens klar hervor. Gleichwohl sind auch einige Äußerungen Safranskis  – etwa zugunsten des Zölibats    –  durchaus wohltuend, zB. folgendes Statement:

„Ich sehe, daß die allgemeine sozialdemokratisierte Meinung es als empörend empfindet, daß diese Priester so etwas Besonders sein wollen. Es ist empörend in unserer Gesellschaft, seine Freiheit und Unabhängigkeit gegenüber der Sexualität zu behaupten. Es gibt eine hämische Art, das Hohe niedrig zu machen…Also diese Häme gegenüber dem Zölibat finde ich widerlich. Schon diese Art der Kritik am Zölibat veranlaßt mich, ihn zu verteidigen.

Wenn sie in diesen Talkshows herumsitzen und darüber lamentieren, welches Leiden diese Priester erdulden, diese komische Art von Fürsorglichkeit: dahinter steckt doch der übelste Konformismus. Nämlich der Konformismus der Sexualität  –  das ist doch jetzt unsere Religion. Kurz gesagt, in dem Moment, in dem Sexualität so was wird wie ein Massensport, tut es einer Gesellschaft gut, wenn es da ein paar Leute gibt, die stolz sagen: Ich verzichte.“(158)

Keine Frage, daß der priesterliche Zölibat wesentlich anders motiviert ist, daß er nicht aus der „stolzen“ Ablehnung einer allgegenwärtigen Sexdiktatur hervorgeht, sondern aus einer tiefen Begeisterung für Christus und seine Kirche, aus glaubensstarker Hingabe an Gott und liebender Sorge um das Seelenheil der Menschen. Gleichwohl sind viele zeitkritischen Beobachtungen Safranskis klarsichtig und couragiert  – noch tapferer ist freilich das Matussek-Buch selbst in seiner Gesamtheit.

Felizitas Küble, Leiterin des Christoferuswerks in Münster
Erstveröffentlichung dieses Artikels im „Theologischen“ (Juli-August 2011)

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