Von Prof. Dr. Reinhold Ortner
„Als er ihn sah, hatte er Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn.“ (Lk 10, 33-34)
Ein altes Buch aus dem Jahr 1662 mit dem Titel „Politischer Blumen-Garten“ liegt vor mir. Darin schreibt Christoph Lehmann: „Barmherzigkeit sieht auf die Not, und weder auf die Ursache noch auf die Person.“
Barmherzigkeit ist ein Grundwert pädagogischer Zuwendung und Liebe. Wenn ich dies betone und daran festhalte, ernte ich bisweilen Verständnislosigkeit.
Viele Menschen neigen eher zum vorschnellen Verurteilen und Bestrafen, gelegentlich auch zu überheblicher Verachtung. Sie täten besser, sich vorher selbst in die Lebensgeschichte des Betroffenen hinein zu versetzen.
FOTO: Prof. Ortner nach einem Vortrag in einer Kirche
Können wir wissen, inwieweit nicht Versuchungen und Anfechtungen den guten Willen überwältigten und ein bislang untadeliges Leben mit bösem Schlingen zu Fall gebracht haben Ging es uns nicht sogar selbst schon so?
Der Apostel Paulus schreibt: „Denn ich begreife mein Handeln nicht. Ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse. Das Wollen ist bei mir vorhanden, aber ich vermag das Gute nicht zu verwirklichen. Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will.“ (Röm 7,13ff)
Siegel christlicher Nächstenliebe
Wir sind schwache, verletzliche Geschöpfe. Wer kann aus sich heraus behaupten: „Ich habe ein reines Herz; ich bin frei von der Sünde“ (Spr 20,9)?
Zu jeder Zeit in der Geschichte der Menschheit gab es den Einfluss des Bösen. In unserem Jahrhundert verdichten sich jene beängstigenden Kräfte, die den Menschen in die Abgründe der Sünde drücken wollen und tödliche Erstickungskrankheiten der Seele verursachen.
Wer kann sagen, dass er immer auf dem Weg des Guten geblieben ist, dass er noch niemals Angriffe und Einbrüche des Bösen erlebt hat, dass Sünde und Schuld ihm fern sind?
Barmherzig zu sein, ist im Überlebenskampf einer egozentrischen Wettbewerbsgesellschaft zum Seltenheitswert geworden, bisweilen sogar zum Unwert.
Wo nur noch der Durchsetzstarke etwas gilt, wo heuchlerische Menschen mit nach außen hin weißer Weste dastehen und sich in ihrer Selbstgerechtigkeit gefallen und als „wertvolle Menschen“ und „anständige Normale“ Achtung erfahren, müssen doch Gerechtigkeit und Barmherzigkeit auf der Strecke bleiben.
Barmherziges Verstehen und Helfen tragen immer das Siegel echter christlicher Nächstenliebe. Daher macht es besonders traurig, wenn wir gerade unseren Kindern diese pädagogisch so wertvollen Erfahrungen von Barmherzigkeit viel zu wenig schenken oder gar herzlos vorenthalten.
Sie wollte am liebsten tot sein
Sheila, ein scheues und gehemmtes Mädchen, ist heute 15 Jahre alt. Ihr Blick ist vor Ängstlichkeit und Menschenfurcht unsicher. In ihrer fernöstlichen Heimat hat sie alles andere als eine unbeschwerte und geborgene Kindheit erlebt. Da ist sie nicht die einzige, deren unberührte Kinderseele in gnadenloser Ausweglosigkeit gequält wurde.
Sheila ist erst 6 Jahre alt, als sie von ihrer Mutter fremden Männern überlassen wird. Es passiert immer im Keller des elterlichen Hauses. Ihre Angst- und Schmerzensschreie müssen noch auf dem Dachboden vernehmbar sein. Doch die Mutter in der Küche überhört sie.
„Warum hilft sie mir nicht?“ schießt es Sheila immer wieder durch den Kopf. Irgendwann schreit sie nur noch stumm. Ihr Leidensweg zieht eine ohnmächtige, depressive und schmutzige Spur durch ihr Leben und mündet in Ausweglosigkeit und Resignation: „Die anderen sind sowieso stärker. Ich schaffe es nie!“
Kaum 12 Jahre alt, wird Sheila durch Drogen gefügig gehalten und abhängig gemacht. Brutalität und Gewalt sind an der Tagesordnung. Sheila landet in einer Absteige. Sie möchte am liebsten tot sein. Ihre Not gleicht einem tiefen schwarzen Loch, aus dem heraus sie verzweifelt nach Erlösung weint.
Eine Hilfsorganisation befreit sie schließlich und bringt sie nach Europa. Seither versucht sie, ein neues Leben aufzubauen.
Eine Straßenlaterne umarmt
„Ich bin nichts mehr wert”, sagt sie. Körper und Seele sind in der Hölle der Perversität in Angst und Schmerz erstickt worden. „Ich mag mich nicht. Ich hasse meinen Körper. Ich bin von innen raus schmutzig. Gott hat mich verlassen, weil ich Ihn enttäuscht habe.“
Als Kind sehnte sie sich in ihrer Verlassenheit nach echter Geborgenheit und Liebe. Es gab niemanden, der Mitleid, Verständnis, Mitgefühl gehabt und sie mit starken Armen beschützt hätte „Einmal“, sagt sie, „habe ich eine Straßenlaterne umarmt und geweint: ‚Lieber Gott, lass mich ein wenig Liebe und Güte spüren, bitte!‘“
Eingeprägt haben sich die Worte ihres endlosen inneren Schreiens: „Lieber Gott, hol mich hier weg. Bitte!“
„Wer sich des Armen erbarmt, der ehrt Gott.“ (Spr 14,31)
Langsam spürt Sheila in ihrer Seele, wie ihr andere echtes Mitfühlen und barmherziges Helfen schenken. Sie erlebt, dass sie um ihrer selbst willen angenommen wird. „Du bist wertvoll und liebenswert!“, sage ich ihr:
„Der Wert deines Lebens hat überhaupt nichts damit zu tun, was einmal war oder was mit dir getan wurde. Niemand darf verächtlich auf dich herabschauen. Viele haben in ihrer heilen Selbstgerechtigkeit Unrecht und davon keine Ahnung. Wir wollen versuchen, dein neues Leben aufzubauen. Ich helfe dir.“
Manchmal schicke ich ein kurzes Briefchen:
Wochen später finde ich einen ein Antwortbrief:
„Gott hat dich zu mir geschickt. Danke, dass du mich wirklich lieb hast. Sheila“
Gemälde: Evita Gründler
4 Antworten
„Sie täten besser, sich vorher selbst in die Lebensgeschichte des Betroffenen hinein zu versetzen.“
Ein wahrhaft Erwachsener braucht das nicht mehr. Denn seine Grundhaltung – die auf dem Wechsel zum höheren Bewußtsein beruht – sorgt dafür, daß er in jedem Falle hilfswillig ist.
Wer aber – wie „normal“ in der zivilisierten Gesellschaft – durch die „Kollektive Neurose“ vom wahren, göttlichen, Selbst abgetrennt ist und durch die neurotischen Blockaden daran gehindert ist, das Gute zu tun, wird sich auch kaum in die Situation / Geschichte eines anderen hineinversetzen können / wollen, geschweige denn, selbstlos helfen.
Da helfen auch keine Appelle, Ermahnungen, Vorwürfe oder ähnliches. Die Krankheit verhindert an irgendeinem Punkt die erwünschte Haltung.
Da hilft – weil es wie gesagt, KRANK ist – nur HEILUNG. Und nicht etwa mit Hilfe von Medikamenten oder sonstigen grobstofflichen Mitteln, sondern am Besten die grundlegende Heilung, die eigentlich in der Frühphase der Pubertät durchgeführt werden soll(te) – im Zuge der „Initiation“, des „Übergangsrituals“, wovon wir weitestgehend entfremdet sind…
Details nachzulesen in meinem Beitrag „Wahre Heilung“ auf meiner homepage http://www.Seelen-Oeffner.de.
Wenn bzw. da es diese Sheila tatsächlich und hier in Europa gibt; warum unternimmt man dann nicht eine zarte Aktion des Mitfühlens?
Ich würde Sheila auch einen Brief schreiben. ihr mein Mitgefühl mitteilen wollen, vielleicht auch etwas spenden, sie einladen.
Gott hat uns Lesern hier die Informationen dieses konkreten Schicksals gesandt – nun fühle ich mich gefragt.
Weitere Informationen zu diesem Fall wären wichtig…
Wer kümmert sich wie um dieses Mädchen? Es sollte alle erdenkbare Hilfe mobilisiert werden. Hier wurde ein Mensch auf Lebenszeit in seinen innersten Grundfesten zerstört.
Das läßt sich nicht wieder richten, aber wenigstens abmildern
Warum da Gott untätig zusieht ist mir unbegreiflich. Ich würde gern helfen!
Es grüßt
Friedemann Kempka
Kastanienweg 9
35099 Burgwald
Tel. 06451 / 6055
Ein mich innerlich sehr bewegender Artikel!