Von Lucia Tentrop
Warum haben kluge Leute in unserem Land nicht selten eine Abneigung gegen das beliebteste Weihnachtslied der Welt?
Das Lied „Stille Nacht“, das in über 300 Sprachen aus dem Deutschen übersetzt und sogar international als immaterielles Kulturerbe anerkannt worden ist, wird auch von manchen Gottesdienst-Besuchern als Zugeständnis empfunden, für das man sich fast schon entschuldigt.
Warum? Was ist daran nicht gut genug oder sogar „kitschig“? – Handelt es sich bei dieser Abwehrhaltung nur um eine deutsche Selbstablehnung des Volkstümlichen, des Volkslieds bzw. des eigenen Gemüts?
Oder fühlt man sich als intelligenter Mensch über Gefühls-Seligkeit erhaben? Warum hat man es nötig, über etwas, was nicht auf wissenschaftlichen Stelzen geht, die Nase zu rümpfen?
Als geborene Sängerin hat mich dieses Lied seit meiner frühesten Kindheit berührt und durch mein Leben begleitet. In unserer Familie wurde es alljährlich unter dem Weihnachtsbaum gesungen.
Für mich ist das Lied ein Wurf. Und der musikalische Leiter der Bayerischen Staatsoper, Professor Meinhard von Zallinger-Thurn, mit dem ich noch Jahre nach meiner Opernzeit in Verbindung blieb, schrieb mir zu dem Lied sogar: „Nicht mal Mozart hätte sich dazu eine bessere Melodie einfallen lassen können!“
Allerdings wies er mich darauf hin, dass das Lied ursprünglich im 6/8-Takt steht und die Wiederholung des letzten Verses jeder Strophe eine zusätzlich auflockernde Verzierung enthält. Im Unterschied zu unserer meist getragenen Singweise ist das Lied „Stille Nacht“ also eigentlich ein heiter beschwingtes Weihnachtslied, wie es für die Volksmusik des süddeutschen bzw. österreichischen Raumes, vielleicht aber auch für Joseph Haydn, typisch ist.
Diesem anrührenden und zugleich beschwingten Duktus fehlt die zusätzliche melodische „Träne“ der langsameren hochdeutschen Singweise, die einerseits als besonders schön empfunden, andererseits aber auch sentimental werden kann – zumal in einer Zeit, in der es sich gehört, „cool“ zu sein und Gefühle der Innerlichkeit bereits vor dem Entstehen zu unterdrücken.
Ob unsere Gemüts-Prüderie auf die Dauer gesund ist? Für die Kunst jedenfalls nicht. Denn immerhin ist das eigentlich Musische, der Melos, zunächst und vor allem eine emotionale Ausströmung. Die Orgien der Musen sind die sinnliche Basis gesanglicher Äußerung – und werden erst durch das Hinzutreten der apollinischen Gestaltungskraft bis in höchste Ebenen hinauf zur Kunst, nicht nur in der Musik.
Was wäre unsere Kunst ohne ihre emotionale Substanz? Welche seelische Wirkung haben theologisch perfekte Liedtexte, wenn sie nicht über Poesie und Melodie zu Herzen gehen? Welchen Wert haben so manche von jeglicher Innigkeit sterilisierte künstlerische Produktionen der Gegenwart für uns Menschen – abgesehen von Ihrem Diskussions- und Marktwert?
Für mein Empfinden erfüllt das Lied „Stille Nacht“ die Kriterien für Kunst im Sinne unserer kulturellen Tradition: Ein normalerweise unaussprechlicher seelischer Zustand der Rührung und des tiefsten Vertrauens wird in eine bildhafte Poesie gefasst und in eine klare musikalische Form gebracht, um den Menschen sinnlich erfahrbar über Bild, Sprache und Melodie aus seiner alltäglichen Realität heraus zu gesteigertem Erleben seiner Innerlichkeit zu führen und in eine höhere Welt des Friedens und der Liebe zu erheben.
Eigentlich eine heilsame Sache – was kann man nur dagegen haben?
Lucia Tentrop, Wundtstraße 40-44 in 14057 Berlin
3 Antworten
Lässt vielleicht mancher das große Geheimnis der Menschwerdung Gottes, das unser Leben und die ganze Wirklichkeit erhellt, zu wenig in sein Herz eindringen?
Gerade die Schlichtheit und die große Zurückhaltung des Liedes in Text und Melodie macht es so authentisch und wertvoll. Gefühle werden hier nicht künstlich gesucht, es werden keine oberflächlichen Plattitüden wiedergegeben, sondern es wird in einfacher Form die Geschichte der Menschwerdung Christi nachgezeichnet.
Alles andere als diese Einfachheit im Angesicht der Größe Gottes wäre Kitsch. Denn dort, wo Gott selbst wirkt, braucht und kann der Mensch nicht mehr mit seinen eigenen Farben dick auftragen.
„Stille Nacht“ ist deswegen so kunstvoll und ergreifend, weil es alles Zuviel der menschlichen Kunst ablegt.
Kunst um ihrer selbst willen wird eine bloße Form ohne Inhalt und damit leeres Gefasel, wie wir es aus dem modernen „Kunst“betrieb kennen.
Wenn Menschen das Ergriffensein von der Wahrheit der Liebe und Zuneigung Gottes in ihrem Herzen wieder zulassen, dann wird auch die Frohbotschaft, die in Text und Lied in Schlichtheit übermittelt wird, nicht mehr als „Kitsch“ empfunden werden können, vielmehr wird dann offenbar, dass nicht ein solches Lied, sondern jedes Leben „Kitsch“ und bloß leere Oberflächlichkeit ist, wenn es diese begeisterte Liebe zur letzten und höchsten Wahrheit nicht mehr zulässt!
„Eigentlich eine heilsame Sache – was kann man nur dagegen haben?“:
WAHRE Heilung kann nicht stattfinden ohne das Einverständnis des Kranken.
Der Mensch ist ein freies Bewußtsein – und niemand kann da hinein oder gar etwas darin verändern ohne daß der Mensch selbst das tut.
Die große Mehrheit der Menschen der zivilisierten Gesellschaft aber sind in der Tat krank – ohne sich dessen bewußt zu sein. Weil sie in die kranke Gesellschaft hineingeboren, hineinsozialisiert, wurden / werden und nicht erfahren, daß sie Teil einer kranken „Normalität“ wurden / sind. Sie sind traumatisiert und / oder depriviert und haben innere Mauern / Zäune errichtet um sich vor weiteren seelischen Verletzungen zu schützen. Durch diese Mauern dringen heilsame Impulse nicht „automatisch“ durch. Und wenn diese Menschen solche Impulse durchlassen, in sich hinein lassen würden, würden sich sofort die abgespaltenen Gefühlsenergien manifestieren, die verdrängten Traumata, die unbefriedigten Bedürfnisse, die Leere und Verzweiflung aus der Kindheit. Und DAS wird immer wieder unterdrückt – weil damit kaum jemand umzugehen weiß. Auch davon sind wir Zivilisierten entfremdet.
Folglich bleibt den meisten der Betroffenen nur die – typisch neurotische – „Abwehr- / Vermeidungshaltung“. DAS ist es, was viele „dagegen“ haben. Ein wesentlicher Aspekt der „Krankheit der Gesellschaft“, der „Kollektiven Zivilisations-Neurose“, wie ich diese Massen-Neurose nenne – die leider überhaupt nicht Gegenstand des Gesundheitssystems ist. Selbst die Soziologen und sonstigen Gesellschaftswissenschaftler, die von der „Kollektiven Neurose“ wissen, sehen nicht die wahre Tiefe und Tragweite der Störung und erkennen sie nicht als die Ursache der allermeisten „Krankheiten“, die, genau betrachtet, nur verschiedenartige Symptome der „ganzheitlichen“ Krankheit der Gesellschaft sind.
Die „Kollektive Zivilisations-Neurose“ ist grundlegend heilbar – in jedem Einzelfall und jederzeit. Es braucht nur die Entscheidung des Betroffenen. Im selben Maße, wie er sich der Erkenntnis der Krankheit und dem Weg der Heilung öffnet, fließt in ihm die heilende Kraft, die geistige Liebe, und lindert den Schmerz der – zugegeben: bitteren – Wahrheit.
Danke für die Veröffentlichung meines Artikels zu dem Lied „Stille Nacht“ am 13.12.
Ich betrachte sie als besonderes Geschenk zu meinem Namens- und Geburtstag,
denn der ist ebenfalls heute, am 13.12.