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Die Vernichtung „unwerten“ Lebens und Menschenzucht: Erfahrungen aus der NS-Zeit

Von Lucia Tentrop

Eine „Reproduktionmedizin“ für Frauen, von der man immer öfter liest, war mir bislang fremd. Eine Freundin, die Agrarwissenschaft studiert hat, erklärte mir, dass das Wort aus der Tierzucht kommt: Man züchtet die Kühe und Schweine dem Markt entsprechend, so dass sie mehr Milch und mageres Fleisch liefern.

Wenn wir das auf uns selbst übertragen, werden wir Menschen züchten, die unserem am Markt orientierten Bildungssystem entsprechen und intellektuell, technisch und sprachlich kommunikativ sind  – während die unsere Geisteswelt tragenden Kräfte der Innerlichkeit, der Seele, der musisch-religiösen Tiefe, verflachen und nicht mehr die Kraft haben, uns in der zunehmend destruktiven Sucht nach dem äußeren „Mehr“ innerlich tief genug im Lot zu halten.      

Ich kann es Peter Schallenberg nachfühlen, wenn ihn gezielte „Produktion“  und Abtreibung von Menschen an die Nazis erinnert, die Hunderttausende von psychisch kranken Menschen als nutzlos umgebracht haben.

Meine Großmutter war auch dabei. Weil die jungen Männer im Krieg waren und sie den Hof mit den Kindern und ihrem Großvater allein bearbeiten und dabei noch eine äußerst anspruchsvolle Tante pflegen musste, war sie so überfordert, dass sie wegen einer Depression in die Raphaels-Klinik nach Münster gebracht wurde. Von dort kam dann bald die schriftliche Nachricht, dass sie in der Klinik plötzlich verstorben war.

Meine Eltern sprachen lebenslang nie darüber. Sie hatten verinnerlicht, dass „unwertes Leben“ für eine Familie eine Schande und vielleicht sogar eine Gefahr war. Ich erfuhr es später von meinem älteren Bruder und meiner Patentante.

Als Kind in der  Nachkriegszeit habe ich sogar eine Nierenkrankheit unterdrückt, weil ich nicht krank sein wollte. Erst als jemand bemerkte, dass ich mich auf der Treppe vor unserer Haustür vor Schmerzen wand,  haben meine Eltern „geschaltet“ und den Arzt gerufen. Krieg und Wiederaufbau belasteten alles. 

Eine Frau aus unserm Dorf, die der Staat wegen der zerstörten Häuser mit ihrem Mann in unser Einfamilienhaus einquartiert hatte, erzählte uns Jahre später bei ihren Besuchen, wie Menschen von den Nazis gezüchtet wurden:

Weil sie blond war, kam sie nach der Realschule zur praktischen Ausbildung in eine Einrichtung, in der es auch eine Abteilung für blonde junge Männer gab, die nach bestimmten körperlichen Vorzügen ausgesucht und als Hitlers Elite für die Erhaltung der germanischen Rasse sorgten.  

Diese Mädchen waren ständig unter strenger Aufsicht, mussten hart arbeiten und jeden Morgen mit  nacktem Oberkörper auf dem Hof Lauf-Übungen machen, damit – wie Frau B. immer betonte –   die Brüste wackelten, während die jungen Männer aus den Fenstern zuschauten.

Von Zeit zu Zeit fragte die Aufseherin dann immer mal wieder: „Ist jemand von euch bereit, dem Führer ein Kind zu schenken?“

Wenn sich dann ein Mädchen bereit erklärte, wurde sie offiziell bevorzugt und von der harten Arbeit in ein  besseres Leben erlöst. – Soweit der Erlebnisbericht. Was mit den Babies passierte, ob und wie lange sie bei der Mutter blieben, weiß ich nicht. Unsere ehemalige Mieterin hatte dieses  Zuchtverfahren nicht mitgemacht und so die Folgen nicht miterlebt.

Heute wird man fast mit den Tätern in einen Topf geworden, wenn man darüber im Klartext spricht.   In dieser Erinnerung erlaube ich mir den Vorschlag, als Christen nicht nur das „Produkt“, sondern auch die „Reproduktion“ in Anwendung auf Menschen mit Gänsefüßchen zu schreiben oder von  „sogenannter  Reproduktionsmedizin“ zu sprechen, um uns davon zu distanzieren. Für uns ist der  Mensch ist kein verfügbares „Produkt“, sondern im tiefsten Sinne des Wortes Person (vgl. Gal 2,20). 

Unsere Autorin Lucia Tentrop ist katholische Theologin, Musikerin, Malerin und Pädagogin; hier ihre Homepage: www.lucia-tentrop.de                                  

Kommentare

2 Antworten

  1. Nicht zu fassen: wegen einer Depression, die behandelt werden kann, diesen Menschen zu töten.
    Ich kenne ein Fall, der glücklicher ausging. Eine Frau, die früher zu unserem Rosenkranzbeten kam, erzählte, dass sie selbst mit 16 Monaten noch nicht lief. Es kam ein Brief und sie sollte in eine Einrichtung zur Ertüchtigung und zu Untersuchungen. Die Eltern ahnten was.
    Sie sind persönlich zum Rathaus gegangen, um vorzusprechen. Es wurde nochmal eine Frist gewährt.
    Der zweite Brief kam, weil das Kind immer noch nicht lief. Ein paar Tage vor der Abreise lief das Kind und konnte bei den Eltern bleiben. Es war alles ganz knapp und die Eltern und die Frau sind Gott dankbar für sein Wirken.
    Die Frau wäre gerne in ein Kloster gegangen, aber das klappte nicht. Sie war eine sehr fromme Beterin.

    Das mit der Menschenzucht in der NS-Zeit ist abartig.

  2. Ein sehr wahrer Bericht.
    Auch dato ist man im Begriff, eine neue Mentalität zu züchten, WELCHE BLINDLINGS TUT, OHNE ZU MUCKEN.

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