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Forschung zu individuellen und kollektiven Traumata, ihren Ursachen und Therapien

Von Stefan P. Teppert

Bei der diesjährigen Tagung des Bischof-Neumann-Kreises der Ackermann-Gemeinde am 5. März 2022 ging es übergreifend um die Frage, wie tief verstörende Erfahrungen  – etwa von Gewalt und Entwurzelung, die besonders häufig bei Geflüchteten und Vertriebenen anzutreffen sind  –  zu Traumatisierungen führen, aber auch, wie sie therapiert werden können.

Prof. Dr. Rainer Bendel (siehe Foto rechts), Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Katholischer Vertriebenenorganisationen (AKVO) in Stuttgart, war zugleich Organisator und Moderator der im Hotel Fortuna in Schwäbisch Gmünd stattfindenden Traditionsveranstaltung.

In einem frei gehaltenen Vortrag zeichnete Georg Hummler (Foto oben) „Linien einer christlichen Psychotraumatologie“.

Der Dipl.-Theologe und Psychotherapeutische Heilpraktiker hat bei seiner langjährigen Tätigkeit als Seelsorger an Kliniken und Schulen wie auch bei seiner jetzigen, in Deutschland einzigartigen Tätigkeit als Flüchtlingsbeauftragter im Dekanat Calw vielfältige Erfahrungen mit traumatisierten Menschen gesammelt.

Zunächst arbeitete er in einem theoretischen Teil seines Vortrags mögliche Trauma-Ursachen heraus, wozu neben Krieg, Flucht und Folter auch Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung gehören, aber auch Unfälle, Krankheiten, Suizid, Konflikte der Eltern oder ihre Trennung und Naturkatastrophen.

Freud als Entdecker der Hysterie und des Psychotraumas zog seine Position auf massiven Druck von Kollegen zurück.

Erst im Gefolge des Vietnamkriegs, durch den 2,8 Millionen Männer nicht mehr in die Gesellschaft der USA integrierbar waren, begann die Aufarbeitung solcher seelischen Erschütterungen. Auch ihre Weiterführung in der Nachkommenschaft, wie sie schon im Deuteronomium beschrieben wird, fand Anerkennung. 1980 wurde das posttraumatische Syndrom erstmals als Krankheitsbild definiert.

„Traumata“ sind, so definierte Hummler, „kurz oder lang anhaltende Geschehnisse außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß, die nahezu bei jedem Menschen tief greifende Verzweiflung auslösen, potenzielle oder reale Todesbedrohungen, ernsthafte Verletzungen oder Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit, damit verbunden intensive Hilflosigkeit und Schwäche.“

Es gebe hirnorganische Gründe, nach Ulrich Sachse „Erinnerungsabszesse“, warum in uns allen Traumata stecken. Wie gesund ein Mensch ist, hänge von seiner Bewältigungskapazität (Resilienz, Ressourcen an stabilisierenden Erlebnissen) ab. Im Kern des traumatischen Erlebens stecke der Zusammenbruch dieser Fähigkeit.

Da es wichtig sei zu wissen, was ein Trauma mit unserem Gehirn anstellt und so vielleicht alle großen psychischen Erkrankungen auslöst, erläuterte Hummler den Aufbau des menschlichen Gehirns und das Reaktionsmuster bei Traumatisierung.

Erst wenn unser Gehirn die raum-zeitliche Einordnung eines Ereignisses in unsere Biographie nicht mehr bewältigen und es in seiner versprachlichten Bedeutung als ganzheitliche Erfahrung anerkennen, einordnen und abspeichern kann, wenn also in absoluten Notsituationen der Hippocampus, der mit beiden Hälften der Großhirnrinde vernetzt ist, nicht mehr funktioniert, sondern die Verbindung zum Sprachzentrum blockiert und das ganze Selbstkonzept zerrissen ist, nur noch vom Stammhirn, dem ältesten Teil der Reizverarbeitung, gesteuerte unreflektierte Affektreaktionen im Hier und Jetzt möglich sind, dann werden unerträgliche Erfahrungen abgespalten und ausgefiltert, sind nicht mehr zugänglich, Gedanken und Gefühle sind dissoziiert  –  eine gnädig schützende Leistung des Gehirns.

Lässt die traumatische Zange weder Kampf noch Flucht, sondern nur noch Ohnmacht und Todesangst zu, kann sich die Erinnerung auch fragmentieren.

Erst wenn die schmerzliche Wahrheit anerkannt ist und erzählt werden kann, beginnt die Genesung eines Opfers. Sehr viel häufiger aber tauche die Geschichte des traumatischen Ereignisses nicht als Erzählung auf, sondern als krankhaftes Symptom.

Wiederholt wies Hummler auf Reichtum und Treffsicherheit der Sprache hin, die in vielerlei Wendungen psychotraumatologische Phänomene benennt und beschreibt, wie etwa „es hat mir die Sprache verschlagen“.

Der Referent begleitete seine theoretischen Ausführungen mit beeindruckenden, ja schockierenden Fallbeispielen aus seinem Arbeitsbereich und ergänzte sie in einem zweiten Teil mit einschlägigen Werken der christlichen Kunst, besonders mit Pietà-Darstellungen aus dem süddeutschen Raum.

Sie lassen verblüffende Abschattierungen in der dissoziierenden oder der eher zugewandten, dem Schmerz Raum gebenden, verarbeitenden Trauer bei der Schmerzensmutter mit dem Gekreuzigten erkennen und sind Zeugnisse dafür, dass die Künstler im Mittelalter schon sehr gut um solche traumatischen Zustände wussten.

Erstaunlich waren auch Hummlers Schilderungen, wie solche Darstellungen manchen traumatisierten Muslimen halfen, ihre eigenen schrecklichen Erlebnisse gespiegelt zu sehen und sie als zugehörig zur eigenen Persönlichkeit anzunehmen, wodurch ein Weg zur Heilung geöffnet war.

Weil die Betroffenen im Christentum zugleich ein Mehr an Menschlichkeit und Würde erkannten, sahen sie sich veranlasst, zu konvertieren, freilich immer in der Angst vor der Intoleranz ihrer muslimischen Glaubensbrüder.

Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise

In der zweiten, das Thema der Traumatologie aus ganz anderer Perspektive ergänzenden Hälfte der Tagung las der tschechische Germanist und Schriftsteller Jaroslav Rudiš aus seinem vor drei Jahren erschienenen, in deutscher Sprache verfassten Roman „Winterbergs letzte Reise“.

Darin wird eine Bahnfahrt durch die Geschichte Mitteleuropas im 19. und 20. Jahrhundert erzählt mit nostalgischem Akzent auf das Habsburgerreich. Die Schlacht von Königgrätz 1866 zwischen Preußen und Österreich ist für Wenzel Winterberg, den 99-jährigen Romanhelden, der Angelpunkt der Geschichte, Europas Urkatastrophe und Untergang, von dort aus ging es nur noch bergab Richtung Nationalismus, vor allem in den neuen mitteleuropäischen Ländern.

Der aus dem Sudetenland stammende Held, der so alt ist wie die tschechoslowakische Republik und ihre Geschichte verkörpert, erzählt das alles seinem –  wie er selbst in Berlin lebenden, aber aus Böhmen stammenden – Altenpfleger und Sterbebegleiter Jan Kraus, von dem er auf seiner letzten Schicksalsreise im Zug begleitet wird, auf der Suche nach seiner verlorenen Liebe Lenka, einer böhmischen Jüdin.

Die Reise geht von Berlin nach Sarajewo über Linz, Winterbergs Geburtsstadt Reichenberg (das heutige Liberec), Prag, Brünn, Wien, Bratislava, Budapest und Zagreb.

Unter welchen Umständen beide aus der Tschechoslowakei fliehen mussten – Winterberg als Vertriebener am Ende des Zweiten Weltkriegs, Kraus nach dem russischen Einmarsch 1972 mit einem gekaperten tschechischen Flugzeug –, bleibt ihr traumatisches Geheimnis.

Dramaturgisch geschickt, mit dialogischer Finesse und Situationskomik ist das Thema Heimatverlust eingefangen.

Die deutsch-tschechische Vergangenheit wie auch die persönliche der beiden Reisenden wird in dem handlungsarmen, aber geschichtliche Linien und Zusammenhänge aufdeckenden Eisenbahn-Roman in vielerlei Anläufen heraufbeschworen.

Das Ambiente einer Zugfahrt mit ihrem gleichmäßigen Rattern ist für eine Reise geradezu ideal, bei der Winterberg mit Hilfe eines Vorkriegs-Baedekers von 1913 – des letzten für Österreich-Ungarn, als Mitteleuropa noch heil und die Welt noch in Ordnung schien  – mit ausladenden Zitaten die Stationen aufleben lässt und sie mit persönlichen Erinnerungen und familiengeschichtlichen Erkenntnissen ergänzt.

In „historischen Anfällen“ steigert sich der Greis in endlose Suaden hinein, überzeugt davon, gegen die menschliche Dummheit mit ihrer Geschichtsvergessenheit ankämpfen zu können, und davon, dass mit seinem Tod alles verloren ist.

In seinen manischen Monologen ist er nicht zu unterbrechen, höchstens durch schlagartiges Einschlafen – den Kopf auf den Baedeker mit dunkelrotem Einband gebettet. Auch sein Begleiter Kraus muss das Trauma seiner Flucht verarbeiten, reist ebenfalls einer verlorenen Frau nach, ist im Gegensatz zu Winterberg schwer depressiv und liegt in Brünn im Krankenhaus, weil er zu viel raucht und trinkt.

Auf dem witzig-melancholischen Hintergrund des Verlorenen erhebt sich subkutan nicht nur für die Protagonisten, sondern auch für den Hörer und Leser die Frage, was davon bedenkens- und bewahrenswert bleibt.

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