Am 12. April 2024 erschien in der FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) ein kenntnisreicher und gehaltvoller Leserbrief von Prof. Dr. Manfred Kittel aus Berlin. Der Historiker (siehe Foto) lehrt an der Universität Regensburg und ist u.a.Vize-Vorsitzender der „Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen„.

In seinem Buch „Die zwei Gesichter der Zerstörung“ schreibt er wissenschaftlich fundiert über die Vertreibung von 14 Millionen Deutschen aus ihrer Heimat im Osten während und nach dem Zweiten Weltkrieg.

Dabei geht es auch um den Völkermord-Begriff und die „ethnische Säuberung“. Der Zeitgeschichtsexperte erläutert die „zwei Gesichter“ des Genozids, wozu neben der direkten Ausrottung auch die Zerstörung einer Volksgruppe durch Massenvertreibung gehören kann. 

Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Kittel dokumentieren wir hier vollständig seine Zuschrift an die FAZ:

Genozidale Vertreibung

Den Tenor des Kommentars von Reinhard Müller („Die Auslöschung der eigenen Kultur“, FAZ, 9.4.2024) zum oft verdrucksten bundesrepublikanischen Umgang mit dem Kulturerbe der Deutschen im östlichen Europa kann ich vor meinem Erfahrungshintergrund als Gründungsdirektor der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung im Kern nur bestätigen.

Bemerkenswert ist auch sein Hinweis auf die „genozidale Vertreibung“, der an eine wenig bekannte Argumentation des Vaters der UN-Genozidkonvention und Holocaust-Überlebenden Raphael Lemkin beim Konventionsbeitritt der Bundesrepublik 1954 erinnert.

Danach lag auch der großen Vertreibung der Deutschen aus dem Osten um 1945 die Absicht zugrunde, eine „nationale Gruppe“ (Schlesier, Ostpreußen, Sudetendeutsche et al.) in ihrer Einheit und Geschlossenheit „ganz oder teilweise zu zerstören“.

Zu den in Zerstörungsabsicht zu begehenden Handlungen zählt die UN-Konvention neben Tötungen etwa auch „schon“ die Verursachung „von schweren körperlichen oder seelischen Schäden“ sowie eine Reihe anderer Delikte.

BILD: Gedenkstein des BdV (Bund der Vertriebenen) in Friedrichshafen

Wie in einer Studie über die „zwei Gesichter der Zerstörung“ von mir jüngst näher untersucht, hat sich der Deutsche Bundestag damals von der CDU bis zur SPD Lemkins weitem Genozidbegriff angeschlossen und Völkermord als § 220a im StGB verankert.

Dies fand auch in unserer Rechtsprechung seinen Niederschlag. 1999 verurteilten deutsche Gerichte etwa einen bosnischen Serben, der einige Jahre zuvor auf dem Balkan schwerste Verbrechen an Muslimen verübt hatte, aufgrund dieses Paragraphen.

Der Pflichtverteidiger hatte argumentiert, dem Angeklagten sei es lediglich „um eine Vertreibung der Muslime gegangen, nicht um ihre Vernichtung“. Vertreibungspolitik reiche aber nicht aus, um jemanden wegen Völkermordes zu bestrafen. Denn dann würde ja „auch die Vertreibung der Sudetendeutschen“ aus der Tschechoslowakei „unter Völkermord fallen“.

BILD: Gedenk-Kerzen für die Opfer der Vertreibung (St. Gerhards-Werk)

Der Strafsenat des Bundesgerichtshofs, der in der Berufungsinstanz urteilte, sah das – wie vor ihm das Düsseldorfer Oberlandesgericht – aber anders:
Völkermord liege nicht nur dann vor, wenn eine Volksgruppe vollständig physisch vernichtet werden solle. Es gehe vielmehr um die Zerstörung der Gruppe „als solche“, nicht des einzelnen. Denn wenn man die Gruppenmitglieder der bosnischen Muslime in alle Welt zerstreue, würde auch die Gruppe nicht mehr existieren.

In der Tat: Im Fall bosnischer Muslime kann man schwerlich anders argumentieren als im Fall ostpreußischer Protestanten oder sudetendeutscher Katholiken.

International mag heute bei Völkerrechtlern eine engere, „physische“ Deutung von Genozid vorherrschen. Doch der weite Begriff im Sinne Lemkins erfasst ein viel größeres Spektrum an existenziellen Verbrechen gegen nationale oder religiöse Gruppen, wie sie sich bis heute leider viel zu oft ereignen – wenn auch nicht ganz so häufig, wie Propagandisten der Hamas oder Putins das glauben machen wollen.