Seit dem Ende des Sowjetreichs ist das überwiegend armenisch besiedelte Berg-Karabach der Zankapfel zwischen Armenien und Aserbaidschan. Nach dem Krieg 2020, der von Russland mehr schlecht als recht geschlichtet wurde, kommt es immer wieder zu Übergriffen.
Seit rund einem halben Jahr blockiert Aserbaidschan nun den Latschin-Korridior und schneidet Berg-Karabach damit von Armenien ab.
Doch welche Auswirkungen hat das auf die christlichen Karabach-Armenier?
Wir sprachen mit Joel Veldkamp (siehe Foto), dem Leiter der internationalen Kommunikation bei Christian Solidarity International, der sich dort schwerpunktmäßig mit Berg-Karabach beschäftigt.
Sehr geehrter Herr Veldkamp, im Schatten des Ukrainekrieges ist – weitgehend unbeachtet – auch der Konflikt um Berg-Barabach neu aufgeflammt. Mittlerweile blockieren aserbaidschanische Kräfte seit über 160 Tagen die wichtigste Zufahrtsstraße. Welche Auswirkungen hat das auf die rund 120.000 eingeschlossenen christlichen Armenier?
Den Menschen fehlt es mittlerweile an grundlegenden Gütern wie Fleisch, Obst und Hygieneartikeln. In den Krankenhäusern müssen immer öfter notwendige Operationen verschoben werden, weil die medizische Ausstattung nicht mehr vorhanden ist.
Hinzu kommt, dass Aserbaidschan die armenische Enklave Berg-Karabach auch von Strom und Gas abgeschnitten hat. Wie ich von Menschen vor Ort weiß, wird die Lage immer dramatischer. Besonders schwer ist es auch für Menschen mit chronischen Erkrankungen oder für solche, die eine spezielle Ernährung benötigten.
Wenn es zu einem erneuten Krieg kommen sollte, fürchten die Menschen mittlerweile einen neuen Völkermord.
Kürzlich kam es erneut zu einem Feuerüberfall aserbaidschanischer Artillerie auf armenisches Militär. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass der Konflikt weiter eskaliert?
Das ist sehr wahrscheinlich. Aserbaidschan hat gelernt, dass es für Angriffe auf Armenien oder Berg-Karabach keinen Preis zahlt und wird daher wahrscheinlich erneut angreifen, um Armenien am Verhandlungstisch Zugeständnisse abzuringen. Ironischerweise macht gerade die Tatsache, dass Armenien und Aserbaidschan jetzt Friedensgespräche führen, solche Angriffe wahrscheinlicher.
Darüber hinaus haben die Karabach-Armenier und ihre Vertreter sehr deutlich gemacht, dass sie ihre Häuser nicht verlassen und nicht unter aserbaidschanischer Herrschaft leben werden. Aserbaidschan hat ebenso deutlich gemacht, dass es die Absicht hat, Berg-Karabach zu erobern. Wenn die Welt nicht eingreift, ist ein bewaffneter Angriff Aserbaidschans auf Berg-Karabach fast unvermeidlich.
Beobachter fürchten mittlerweile eine ethnisch-religiöse Säuberung? Welche Anzeigen gibt es dafür und was muss man sich in diesem Fall konkret darunter vorstellen?
Zum einen werden die Karabach-Armenier aus den von aserbaidschan besetzten Gebieten im Prinzip vollständig vertrieben. Dann wird wichtiges christlich-armenisches Kulturerbe zerstört und beschädigt, so etwa die Kirchen des Heiligen Johannes in Schuschi sowie die Kirche des Heiligen Sargis in Hadrut. Die Beobachtungsgruppe Caucasus Heritage Watch verfolgt die Zerstörung anhand von Satellitendaten. Nach ihrer Angabe sind weitere Kirchen akut bedroht, abgerissen zu werden.
Hinzu kommt, dass auf aserbaidschanischer Seite ein Klima des Völkermords herrscht. Das betrifft nicht nur die Kriegsrhetorik gegen die Karabach-Armenier, die verbal entmenschlicht werden. Es kommt auch immer wieder zu brutalen Übergriffen.
Als beispielsweise Aserbaidschan im September 2022 in Armenien einmarschierte, massakrierten sie sieben armenische Gefangene und vergewaltigten, ermordeten und schändeten die Leiche einer armenischen Soldatin. Wir wissen das, weil die Soldaten, die diese Dinge getan haben, sie auf Video aufgenommen und ins Internet gestellt haben – ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.
Sollte es zu einem bewaffneten Konflikt um Karabach kommen, wird es mit ziemlicher Sicherheit zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit kommen, die jeden Krieg, den Aserbaidschan seit 1988 gegen die Armenier geführt hat, begleitet haben.
Was genau ist die religiöse Dimension des Konfliktes?
Es geht Aserbaidschan darum, die selbstbewusste christliche Minderheit der Armenier in Berg-Karabach zu vertreiben. Eine religiöse Dimension ist die Vernichtung von Kirchen. Im Krieg 2020 haben aber auch zahlreiche Dschihadisten aus Syrien gegen die „ungläubigen“ Armenier gekämpft.
Aktuell hören wir von Fällen, dass moslemische Truppen christlich-armenische Dörfer im Grenzgebiet über Lautsprecher mit islamischen Gebetsrufen beschallen, um die Einwohner zu tyrannisieren. Aber das sind nur ein paar Beispiele. Wir müssen uns eines klar machen: Wenn die Karabach-Armenier aus der Region vertrieben wurden, dann ist damit das Ende einer der ältesten christlichen Kulturen besiegelt.
Die EU möchte im Konflikt vermitteln. Die Präsidenten von Armenien und Aserbaidschan trafen sich in Brüssel zu Gesprächen. Was sind die Ergebnisse? Wie groß schätzen Sie die Chancen ein, dass der Konflikt beigelegt wird?
Wir brauchen endlich Frieden und eine dauerhafte Lösung in der Region. Die muss aber die Rechte der Karabach-Armenier berücksichtigen. Im Moment sieht es aber leider so aus, als ob die USA und die EU Armenien zu einem einseitigen Frieden drängen möchten, der zwar nicht die Freiheit und die Zukunft der Menschen in Berg-Karabach sichert, jedoch den Fluß von aserbaidschanischem Öl und Gas. Das ist aus meiner Sicht extrem skrupellos.
Es ist darüber hinaus ein Rezept für Krieg in Berg-Karabach und vielleicht in der gesamten Region, nicht für Frieden.
Was müsste aus Ihrer Sicht geschehen, um die Region dauerhaft zu befrieden und den christlichen Armeniern eine Zukunft zu bieten?
Aserbaidschan muss seinen Traum von der Eroberung Berg-Karabachs und der Vertreibung seiner armenisch-christlichen Bewohner aufgeben – oder dazu gezwungen werden, ihn aufzugeben.
Die Verbündeten Aserbaidschans – insbesondere die USA und die EU – müssen aufhören, vor dieser Notwendigkeit die Augen zu verschließen. Die Grundzüge eines Friedensabkommens sind bereits bekannt – sie wurden im Rahmen des Friedensprozesses unter der Leitung der Minsk-Gruppe der OSZE vereinbart.
Sowohl Armenien als auch Aserbaidschan erklärten sich bereit, auf der Grundlage des Rechts der Bevölkerung von Berg-Karabach, ihre Zukunft selbst zu bestimmen, über einen solchen Vertrag zu verhandeln. Es war der aserbaidschanische Präsident, der sich für eine Wiederaufnahme des Krieges im Jahr 2020 entschieden hat.
Der Frieden liegt jedoch im Interesse aller in der Region – Armenier und Aserbaidschaner, Christen und Muslime.
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Titelfoto: CSI