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JA zu Christus: Die „radikale“ und die bürgerliche Gestalt der Nachfolge Jesu

Von Uwe C. Lay

Für Freunde der Schwarz-Weiß-Malerei empfiehlt sich ein Gasthöreraufenthalt in kirchengeschichtlichen Vorlesungen der heutigen deutschen Universitätstheologie.

Da gab es demzufolge einen wunderbaren Urzustand des Christentums, der spätestens mit dem Anfang des Staatschristentums unter Kaiser Konstantin sein Ende fand, bis dann die Kirche aus ihrer „babylonischen Gefangenschaft“ (Luther) durch das 2. Vaticanum befreit worden wäre, hätten sich nicht reaktionäre Kräfte nach dem Konzil gegen den Geist des Konzils verschworen, um so fast alle positiven Reformimpulse des Konzils zu hintergehen, so daß es neben der Finsternis der vorkonziliaren auch die Verfinsterung der nachkonziliaren Kirche gäbe, nur unterbrochen vom Lichte des Konzils und ein paar Leuchten in der Kirchengeschichte. 

Dr. Bernd F. Pelz
Foto: Bernd Pelz

So einfach kann man sich die Geschichte des Christentums zurecht legen. Zu dieser Mär gehört dann auch die Vorstellung eines ursprünglichen reinen Liebes-Christentums gelebter radikaler Nachfolge Jesu, das spätestens seit dem unseligen Thron und Altar-Bund  –  mit Kaiser Konstantin anhebend  –  sein Ende fand: aus basisdemokratischen Urgemeinden wurde dann eine hierarchische Kirche mit Priestern und Bischöfen und einem Papst, ein verweltlichtes, verbürgerlichtes Christentum.

Es ist das große Verdienst von G. Theißen in seiner soziologischen Studie über das Urchristentum [1], vielleicht ganz unbeabsichtigt gegen seine protestantische Intention, sozusagen als Kollateralschaden seiner Studie, diese Mär destruiert zu haben!

Von Anfang an: „radikale“ und bürgerliche Variante des Glaubensvollzugs

Im Zentrum seiner Studie steht nämlich die schlichte These der Gleichursprünglichkeit einer radikalen und einer bürgerlichen Nachfolgepraxis Christi.

Nicht daß sich die eine aus der anderen entwickelt hätte, also daß das verbürgerlichte Christentum eine Folge der Abkühlung der ersten Liebe gewesen wäre, sozusagen das Christentum der in der Liebe lau Gewordenen, denen die Liebesleidenschaft der ersten Christen gegenüberzustellen wäre  –  nein: beide Ausgestaltungen seien gleichursprünglich und beide auch so von Jesus Christus gewollt.

Die radikale Nachfolge Christi ist die der  Nachfolge im wörtlichen Sinne: man zog mit dem Wanderprediger Jesu los, man rief nicht wie Johannes der Täufer die Menschen zu sich, sondern ging zu ihnen, um sie aufzufordern, mitzugehen. Das Ethos dieser Wanderprediger ist das der Heimatlosigkeit, der Familienlosigkeit und Besitzlosigkeit.

Aus dem schlichten Mitgehen ergab sich dieses Ethos von selbst: man verließ seine Heimat, Wohnort, Familie und allen Besitz, weil jede Art von Besitz und jede Art von Familienbindung immobil machte. Alles, was ein bürgerliches Leben ausmacht, Familie, Beruf und Besitz und einen Ort, wo man ansässig ist  –  die Seßhaftigkeit ist die conditio sine qua non jeder Kulturentwicklung  –  ließen die radikalen Nachfolger im wörtlichen Sinne hinter sich, indem sie mit Jesus durch Israel zogen.

Die Radikalität urchristlicher Nachfolgeaufforderungen hat da seinen Sitz im Leben: wer erst seine Eltern beerdigen möchte, bevor er Jesus nachfolgen will, kann ihm nicht nachfolgen, denn nach der vollzogenen Beerdigung ist die Gruppe der Wanderprediger längst weiter weggezogen, so daß der Nachfolgewillige nicht mehr nachfolgen kann.

Jede Art von inmobilen Besitz (die bequem bei sich tragbare Kreditkarte gab es noch nicht) verunmöglichte so ein Mitgehen, jede Art von Familienbindung verunmöglichte es, ganz nur noch mit Jesus zu leben.

Konsequente Nachfolge: alles hinter sich lassen

Nur wer alles, was er hatte, hinter sich ließ, konnte Jesu so nachfolgen – und konnte dann auch das radikale Ethos der Bergpredigt leben: „Widerstrebe nicht dem Bösen“, das kann der allein auf sich gestellte Wanderprediger leben, ein Familienvater nicht: wird seine Familie angegriffen, muß er sie gegen das Böse verteidigen – er kann nicht alles den Armen geben und dann Jesus nachfolgen, denn um des Lebens seiner Familie willen muß er für den Unterhalt sorgen und darf nicht alles  aufopfern. media-401265-2

Wer gar um des Himmelreiches willen enthaltsam lebt, darf seinen Nachfolgestil nicht zum Gesetz für alle machen, denn dann würde die Menschheit in Bälde aussterben. Das ist gewiß nicht der Wille Gottes: der Tod des Menschen durch sein Aussterben in Folge radikaler Nachfolge Jesu.

Darum gab es zugleich die bürgerliche Form der Nachfolge: Theißen spricht hier von den Sympathisanten in den Ortsgemeinden. Natürlich darf hier die antikatholische Intention nicht überlesen werden: daß aus Gemeinden als Depravationsgestalt sich die Kirche herausentwickelte: die Gemeinden verstünden sich als Glied des Judentums und erst das hellenistische Christentum ließ dann daraus Kirche werden als sich vom Judentum abgrenzendes organisiertes Christentum.

Die Nachfolge-Normen der Wanderprediger mußten also umgeformt werden für diese Sympathisantengruppen: „Bei den Verhaltensnormen mußten sich in den Ortsgemeinden die domestizierenden Auswirkungen von Beruf, Familie und Nachbarschaftskontrolle bemerkbar machen…“ [2]

Das führe zu einem Nebeneinander von radikaleren und gemäßigteren Nachfolgeregelungen in den Evangelien. „Es gab also ein abgestuftes Ethos für Wandercharismatiker und ortsansässige Sympathisanten.“ [3]

Es gibt Sondergebote für Vollkommene bzw Menschen, die vollkommen sein wollen und Nachfolgeregeln für jeden.

Vollkommenenheit zugunsten der Kirche

In soteriologischer Hinsicht ist diese Unterscheidung von nicht zu übersehbaren Bedeutung: keineswegs meinte man im Urchristentum, daß nur die Vollkommenen eingehen könnten in das Reich Gottes; es war aber vorstellbar, daß Menschen eine vollkommene Nachfolge lebten und so – um es in ganz unzeitgemäßer Terminologie auszudrücken – verdienstliche Werke aufweisen konnten, die über das Maß der Zulassung zum Eintritt ins Reich Gottes hinausgingen. Sie bereicherten so den Gnadenschatz der Kirche, der dann anderen zu Gute kommen konnte. Aber das nur als kleine Ausschweifung in soteriologischer Hinsicht.

Wesentlicher ist, daß die Gruppe der Wanderprediger ihre radikale Nachfolge nur leben konnten, weil sie von den Seßhaften unterstützt wurden. Jene, die auf allen Besitz verzichteten um des Himmelreiches willen, bekamen das Lebensnotwendige gerade von den Ortsansässigen.

Als Wunderheiler und Prediger zogen sie zu den sich heranbildenden Gemeinden und erhielten als Lohn dort ihren Unterhalt. Der Apostelfürst Paulus bildete da eine Ausnahme, insofern er sich seinen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit erwirtschaftete. Die „Radikalen“ gaben ihre geistigen Güter und die sie Empfangenen gaben dafür ihnen die materiellen Güter, so daß sie ihr Leben ganz in den Dienst Christi stellen konnten.

Das konnten sie aber nur, weil es neben der radikalen Nachfolge die domestizierte gab, in der der christliche Glaube in Einklang zu bringen war mit den Sozialverpflichtungen von Familie, Beruf und Heimat.

Was ist damit im Sinne Theißens gemeint: Der besitzlose Wanderprediger kann wohl leben nach der Devise, sorge dich zuerst um die Gerechtigkeit vor Gott, das Lebensnotwendige wird dir der Himmel schon geben (Euch aber muß es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben: Mt. 6, 33), der Familienvater muß aber um seiner Familie willen täglich für das Lebensnotwendige sorgen, denn täte er das nicht, verstieße er gröblich gegen seine Pflichten als Familienvater.

Zweifache Existenzweise der Nachfolge

Christliche Religion wurde so von Anfang an domestiziert gelebt neben der radikalen Nachfolgepraxis der Besitzlosigkeit und Heimatlosigkeit und Familienlosigkeit. Nicht ein Abfall vom wahren Glauben, nicht ein Abkühlen der ersten Liebe, also lau gewordene Christen erfanden das bürgerlich domestizierte Christentum – sondern die zweifache Gestalt der Nachfolge gab es – von Jesus Christus selbst gewollt: gleichursprünglich als sich wechselseitig bedingende und nur in ihrer Einheit das Christentum darstellende Sozialform. kt2012-p1110153

Theißen stellt nun selbst fest, daß dieses radikale Nachfolge-Christentum in Bälde verschwand und sich die Kirche herausbildete, in der die einstig anerkannten Wanderprediger zu Randfiguren degradiert wurden.

Als Protestanten fehlt ihm natürlich der Blick für die Geburt des Mönchstums aus dem Geiste der radikalen Nachfolge Christi, in der Ehelosigkeit und Besitzlosigkeit nun gelebt wurden und der Weg in die Wüste die gelebte Heimatlosigkeit wurde. Wo er nur melancholisch das Ende des Weges der radikalen Nachfolge sieht, gilt es, die Prolongierung dieser Nachfolge im gelebten Mönchtum zu erkennen.

Das Christentum konnte sich ohne Identitätsverlust bürgerlich gestalten, weil es immer das „Andere“, die radikale Nachfolge Christi in der Sozialgestalt der Wanderprediger und später der Mönche mit sich trug. Problematisch wurde es, wenn versucht wird, diese zwei Formen der Nachfolge auf eine für alle Christen verbindliche zu reduzieren.

Zur Veranschaulichung: Wenn Jesus sagt: „Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand…“, so kann dies der allein auf sich gestellte Wanderprediger so leben, die Mutter, dessen Kind von jemanden angegriffen wird, wird selbstverständlich, so weit es ihr möglich ist, ihr Kind auch mit Gewaltanwendung vor einem Kinderschänder schützen. Aber damit leistet sie dem Bösen Widerstand. Familie, Beruf, Beheimatetsein in einer sozialen Gemeinschaft müssen notwendigerweise ein anderes Ethos in sich tragen als jenes von Wanderpredigern.

Wenn Jesu radikale Nachfolge die Entäußerung jedes eigenen Besitzes fordert und damit echte Armut, so formte sich dieses Ethos für die Seßhaften um in die Maxime, die stoisch-paulinische, die da lautet: besitzen, als besäße man nicht.

Das „als ob nicht“ spiritualisiert dann die für die Radikalnachfolge wörtlich gemeinte Regel des völligen Besitzverzichtes. Die Einsicht in die Gleichursprünglichkeit und Gleichlegitimität der beiden Formen der Nachfolge kann uns dann vor solchen Harmonisierungs-Versuchen bewahren, in denen immer einer Gestalt zu Lasten der anderen aufgelöst wird.

Hermann Hesse über das „Ideal des Heiligen“

Es ist hier nicht der Ort, Hermann Hesse als großen Schriftsteller zu würdigen. Hesses „Tractat vom Steppenwolf“ in seinem Roman: „Der Steppenwolf“ soll statt dessen hier für diese Erwägung der Verhältnisbestimmung von radikaler Nachfolge und bürgerlichem Christentum fruchtbar gemacht werden. 

„Der Mensch hat die Möglichkeit, sich ganz und gar dem Geistigen, dem Annäherungsversuch ans Göttliche hinzugeben, dem Ideal des Heiligen. Er hat umgekehrt auch die Möglichkeit, sich ganz und gar dem Triebleben, dem Verlangen seiner Sinne hinzugeben und sein ganzes Streben auf den Gewinn von augenblicklicher Lust zu richten. Der eine Weg führt zum Heiligen, zum Märtyrer des Geistes, zur Selbstaufgabe an Gott. Der andre Weg führt zum Wüstling, zum Märtyrer der Triebe, zur Selbstaufgabe an die Verwesung.“ [4]  

Die bürgerliche Existenz sei nun gekennzeichnet durch den Versuch, beide Extreme zu vermeiden und eine wohltemperierte Mitte zu finden und zu leben. Hesse charakterisiert dies wohltemperierte Leben des Bürgers so:

„Nie wird  er sich aufgeben, sich hingeben, weder dem Rausch noch der Askese, nie wird er Märtyrer sein, nie in seine Vernichtung willigen – im Gegenteil, sein Ideal ist nicht Hingabe, sondern Erhaltung des Ichs, sein Streben gilt weder der Heiligkeit noch deren Gegenteil, Unbedingtheit ist im unerträglich, er will zwar Gott dienen, aber auch dem Rausch, will zwar tugendhaft sein, es aber auch ein bißchen gut und bequem auf Erden haben.“  [5] 

Einfacher gesagt: der Wille zugleich, sein Leben ganz auf das Reich Gottes ausrichten zu wollen und zugleich Weltmensch zu sein, führt zu einer Melange, in der alles Radikale sich auflöst und ein wohltemperiertes maßvolles Leben sich generiert.

Aber  –  und das ist nun Hesses zum Weiterdenken anregende These: dieser Durchschnittsmensch lebt nur, indem er immer wieder Impulse von den Extremen, den Außenseitern in sich aufnimmt und aus ihnen lebt.

So ist der Bürger eingespannt in das Widereinander vom Heiligen und Unheiligen, den beiden Extremen und lebt nur so, inwieweit er Impulse vom nichtbürgerlichen Leben rezipiert. Das bürgerliche Christentum braucht die Impulse radikal gelebter Nachfolge in der Sozialgestalt der Wanderprediger oder der Mönche, um sie aufnehmend maßvoll dann christlich zu leben.

Wo das „Radikale“ fehlt, geht auch das Maßvolle zugrunde

Wo das Radikale verloren geht, da geht auch das Maßvolle zugrunde oder öffnet sich einseitig den Impulsen des Unheiligen, dem Extrem des Wüstlings der Triebe. Und wem dies nun eine bloße blutleere Phantasterei erscheinen mag, der solle auf einem Katholikentag einmal auf die Omnipräsenz des Themas Sexualität und Homosexualität achten. Hat das Reformchristentum noch ein anderes Thema als: mehr Sex?

Der Weltpriester ist nun gerade  im bürgerlich-christlichen  Gemeindeleben der Repräsentant des Nichtbürgerlichen. Er lebt familienlos, hat statt ein Zuhause eine Dienstwohnung und lebt berufslos, insofern unter dem bürgerlichen Beruf immer mitverstanden wird die Dualität von Familienleben und Berufsleben, daß eben der Beruf nur eine der Lebensphären des Bürgers ist, wohingegen der Priester ganz Priester ist und nicht etwa nur, wenn er seinen Beruf ausübt, um dann noch Familienmensch und Staatsbürger zu sein.

Sich ganz für etwas hinzugeben, ist dem Bürger nicht möglich, er ist immer zersplittert in verschiedene Sphären  –  der Priester aber ist ganz und gar, ungeteilt nur Priester.

Luthers Erfolg war und ist nun nicht nur die Abschaffung des Mönchstums als radikale Sozialform der Nachfolge Christi, sondern auch die völlige Verbürgerlichung des Pfarrers: er wird zu einem Beruf wie jeder andere auch, einer wie jener der Weltmenschen, die arbeiten und darin ihre Pflicht erfüllen, um dann in der Familie zu leben.

Der katholische Weltgeistliche dagegen gehört in den Raum der radikalen Nachfolge Christi – darum lebt er in der Tradition dieser Nachfolge familienlos und ehelos. Und gerade so bildet er ein Ferment, das das bürgerliche Gemeindeleben der Christen lebendig erhält.

Das gemeinsame und das besondere Priestertum

Das 2. Vaticanum lehrt:

„Das gemeinsame Priestertum der Gläubigen aber und das amtliche bzw. hierarchische Priestertum unterscheiden sich zwar dem Wesen nach und nicht bloß dem Grade nach; dennoch sind sie einander zugeordnet: das eine wie das andere nämlich nimmt auf je besondere Weise am einen Priestertum Christi teil. Der Amtspriester nämlich bildet kraft der heiligen Vollmacht, derer er sich erfreut, das priesterliche Volk heran und leitet es; er vollzieht in der Person Christi das Opfer und bringt es im Namen des ganzen Volkes Gott dar; die Gläubigen aber wirken kraft ihres königlichen Priestertums an der Darbringung der Eucharistie mit und üben es aus im Empfang der Sakramente, im Gebet und in der Danksagung, durch das Zeugnis eines heiligen Lebens, durch Selbstverleugnung und tätige Liebe.“

Was hier unter dem Wesensunterschied begriffen wird, das ist auch subsumierbar unter die Differenz von radikaler und gemäßigter Nachfolge Christi. Indem der Priester das Opfer Christi im heiligen Meßopfer darbringt, lebt er eine radikale Nachfolge Christi, die es so anderen Christen ermöglicht, bürgerlich christlich zu leben.

Friedrich Nietzsche schreibt in seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ den bedenkenswerten Satz: „…denn es ist eine Opferung, ein Priester ist und bleibt ein Menschenopfer…“ [6]

Wenn man sich den Weg vom idealistischen Wanderprediger über den Mönch zum Weltgeistlichen vor Augen führt als Ausdifferenzierung des Typos radikal gelebter Christusnachfolge, dann wird man diesem Votum zustimmen müssen.

Wo für Hesse das Herz bürgerlicher Existenz schlägt, im Willen zur Selbsterhaltung  –  und die Religion nur so weit lebbar ist, wie sie dem nicht zuwiderläuft, da übersteigt die radikale Nachfolge das bürgerliche Leben, denn hier wird das ganze Leben in den Dienst Gottes gestellt und dafür auch geopfert.

Dem Katholizismus steht so im Protestantismus ein völlig verbürgerlichte Christentum gegenüber, das nur noch melancholisch gestimmt an die Zeiten der ersten Liebe mit ihrer radikalen Christusnachfolge denken kann  –  aber wenn ihm so die Impulse dieses heiligen Extremes zur Verlebendigung fehlen – von wo her zieht es dann noch Vitalität?

Hesse deutet es an: im negativen Idealbild des Märtyrers der Triebe.

Das mag übertrieben klingen, aber ist nicht die völlige Abschaffung einer christlichen Sexualmoral im Protestantismus ein Indiz dafür, daß man sich hier in domestizierter Form von diesem Extrem influenzieren läßt, weil das andere Ideal, das eines heiligen Lebens, völlig abhanden gekommen ist?

Solange der Katholizismus noch sein Ideal des heiligen Lebens in sich trägt in der Gestalt radikal gelebter Nachfolge, wird es diesen Versuchungen widerstehen können – verbürgerlicht es, dann wird es schnell fallen, weil das bürgerliche Leben ohne die Impulse der Extreme keine Lebenskraft in sich selbst trägt – so die mehr als bedenkenswerte These Hermann Hesses.

Anmerkungen:
[1]    Theißen, Gerd, Sozoiologie der Jesusbewegung. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Urchristentums, 7. Auflage 1977
[2]    Theißen, G. Soziologie der Jesusbewegung, 7. Auflage 1997 S. 22
[3]    Theißen, S. 23
[4]    Hesse, Hermann, Der Steppenwolf, 1974, S. 68
[5]    Hesse, S. 69
[6]    Nietzsche, F., Fröhliche Wissenschaft, 5. Buch, S. 351
 

Unser Autor Uwe C. Lay ist katholischer Theologe und Publizist

Erstveröffentlichung dieses Beitrags im „Theologischen“ (Ausgabe Mai/Juni 2013)

 
 

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