Von Prof. Dr. Georg May
Judas wurde von seiner Sünde in die Tiefe gerissen, Petrus, auch er ein Apostel, kam durch seine Sünde in die Höhe. Sie half ihm zur Reife, zur vollkommenen Gestaltung seiner Persönlichkeit.
Die Sünde war dazu Anlass, nicht Ursache. Denn jede Sünde ist Ursache einer Zerstörung. Aber der Fall kann Anlass zu einer großen Kraftentfaltung und zur Wirkung der besten Kräfte in einem Menschen werden.
Wir betrachten den Fall, die seelischen Wurzeln dieses Falles und den Aufstieg, die Umkehr, den Bußweg.
I. Der Fall des Apostels
Die Verleugnung Jesu durch Petrus ist auf den ersten Anblick ein sehr schwerer Fall, und man könnte fragen: Wenn ein Mensch so fallen kann, auf wen kann man sich noch verlassen?
Denn wer war der Verleugner? Ein Apostel – und zwar der erste, dem Jesus eine vorzügliche Stellung eingeräumt, den er besonders mit seiner Achtung ausgezeichnet, dem er hohe Vollmachten versprochen hatte.
Schon als Petrus zum ersten Mal zu Christus gekommen war, geführt von Andreas, schaute er ihn und sagte: „Du bist Simon, Sohn des Jonas; du wirst Kephas (Fels) heißen.“
Auch später zeichnete er ihn aus. Wenn etwas Wichtiges zu erledigen war, musste es Petrus besorgen. Er hatte die Steuer zu bezahlen, er wurde zu Rate gezogen. Wenn Jesus allein sein wollte mit nur wenigen Jüngern, nahm er Petrus mit zwei anderen mit.
Petrus konnte sodann mit Recht sagen: „Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt.“
Dann war er vom himmlischen Vater besonders begnadet worden mit jener großen Stunde vor Cäsarea Philippi. Jesus fragte: „Für wen halten die Leute den Menschensohn?“ – Die Apostel wiesen auf unterschiedliche Meinungen hin. Dann fragte Jesus sie ganz ernst: „Für wen haltet ihr mich?“ – Nun ergriff Petrus das Wort und bekannte mit überströmender Begeisterung: „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes.“ – Da würdigte ihn Jesus: „Simon, das hat dir nicht Fleisch und Blut geoffenbart, sondern mein Vater im Himmel.“
Petrus war erleuchtet, mit Einsicht von oben begnadet.
Als einmal nach einer entscheidenden Rede des Meisters viele aus dem Jüngerkreis abfielen und Jesus seine Apostel fragte: „Wollt auch ihr weggehen?“, da erklärte Petrus im Namen der übrigen: „HERR, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. Wir glauben und wissen, dass du der Heilige Gottes bist.“
Und nun, im Vorhof des Hohenpriesters, erklärt derselbe Petrus, diesen Mann nicht zu kennen. Da man in ihn drängt und ihm das Gegenteil nachweisen will, wird er wütend, gebraucht Kraftausdrücke: „So wahr mir Gott helfe“ – „Ich will verdammt sein, wenn ich ihn kenne.“
Ja, Petrus, kennt ihn nicht mehr und noch vor wenigen Stunden zu ihm gesagt: „Ich werde mit dir auch in den Kerker gehen, ja, in den Tod gehe ich mit dir.“ – Jetzt kennt er ihn nicht. Warum? Weil eine Magd sagt: „Du warst auch dabei.“ Vielleicht sagte sie es nur aus Wichtigtuerei; sie wollte ihm nichts Böses. Es konnte ihm auch gar nichts passieren; die Jünger wurden nicht belästigt. Aber Petrus hatte Angst.
Er versagte vollkommen. Und da er einmal darin ist, findet er aus dem Lügen nicht mehr heraus. Das war der Mann, den Jesus zum „Felsen“ bestimmt hat: „Auf dich will ich meine Kirche bauen.“ Diese stolzen Worte, die im Petersdom zu Rom in eine Wand geschrieben stehen, werden hier gleichsam schon bloßgestellt.
Da ist der Felsenmann schon gefallen, da ist er umgesunken und hat versagt. Das eröffnet schöne Aussichten auf die Kirchengeschichte: Wenn das so weitergeht, wenn der Fels so wenig haltbar ist, wie soll die Kirche bestehen können? Wird sie nicht taumelnd ihren Weg gehen, von einem Abgrund in den anderen gerissen?
II. Die seelischen Wurzeln des Falles
Lässt sich das begreifen und erklären? Nun, wir haben ein ziemlich genaues Bild von Simon, dem Sohn des Jonas, dem armen Fischer vom See Genesareth. Er war ein Mensch der Arbeit, ein treuer, biederer Mann. Aber auch einfache Seelen haben ihre schwachen Stellen. Petrus war ein Augenblicksmensch, ein Stimmungsmensch, ein Gefühlsmensch. Was ihm gerade in den Sinn kam, wurde gleich getan, ohne lange Überlegung.
Jede Stimmung, die ihn packte, trug ihn hoch, wenn es eine steigende Welle war; aber wenn es eine fallende Welle war, trug sie ihn nieder.
Ehe sein Wille überhaupt etwas zu sagen hatte, war er schon droben oder drunten, und dann begriff er selber nicht, wie er dahin kam. Die Impulsivität ist ein Talent, eine gute Eigenschaft; aber in einem Stimmungswesen lauert etwas Gefährliches.
Soweit die Evangelien es gestatten, sehen wir: Petrus war sich immer gleich. In einer Nacht auf dem See Genesareth, als die Jünger von den Wellen bedroht wurden und sie Jesus irgendwo auf dem Berge wussten, da sehen sie ihn auf einmal über das Wasser wandeln und da sie IHN erkennen, sind sie voll Glück und Freude.
Und Petrus kann sich nicht mehr halten: „HERR“, sagt er, „lass mich zu dir kommen über das Wasser!“ – Warum? Ein völlig sinnloses Begehren. Er kann doch warten, bis Jesus in das Boot steigt. Aber nein, er muss etwas Besonderes tun. Er ist so begeistert, dass er meint, über das Wasser gehen zu können.
Und gleich verlangt er, auf das Wasser hinausgehen zu dürfen. Jesus kennt ihn schon und lässt ihn anlaufen. Man muss die Menschen ihre Fehler machen lassen, damit sie Vernunft annehmen. So lässt er auch den Petrus kommen, vermutlich mit einem leisen Lächeln in seinen Zügen: „Komm nur!“ Petrus stürzt sich hinein – und wirklich: das Wasser trägt ihn und er ist selig. Aber auf einmal sieht er eine große Woge; er erschaudert: Jetzt wird er sinken.
„HERR, HERR“, schreit er, „rette mich!“ Gleich wieder das Übermaß. So schlimm wird es nicht gewesen sein, von Ertrinken keine Rede. Aber nein: „Ich gehe zugrunde!“ – So groß vorher sein Mut, so groß jetzt sein Kleinmut; kein Vertrauen, keine Zuversicht mehr.
Und jetzt im Vorhof des Hohenpriesters. Noch vor wenigen Stunden hatte der HERR ihn gewarnt: „Petrus, in dieser Nacht wirst du mich dreimal verleugnen.“ Er hatte nichts darauf gegeben. „Nein, das geschieht nicht.“ Er widerspricht ganz kaltblütig. Es scheint ihm undenkbar. „Wenn die anderen dich verraten, ich nimmermehr!“
So gehoben ist er, dass er die anderen herabsetzt; sie kommen ihm spießbürgerlich, langweilig vor, sie sind schwunglose Menschen. Da bin ich schon ein anderer. „Ich werde dich nicht verleugnen!“ Ich gehe in den Kerker, in den Tod mit dir. So trägt ihn die Stimmung.
Er schlägt alles aus, was man ihm sagt. Bei der Gefangennahme, wo das Verhaftungskommando und die Diener des Hohen Rates kommen, übermannt ihn wieder der Mut: „HERR, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, fängt er schon an zu schlagen. Warum fragt er dann? So wartet er die Antwort seines eigenen Verstandes nicht ab. Bevor sein Wille in Aktion treten kann, hat er unter dem Eindruck seines Gefühls schon etwas angerichtet.
Petrus ging dem Zug mit dem gefangengenommenen Jesus aus der Ferne nach und fand sich im Vorhof des Hohenpriesters ein. Er wollte sehen, wie es dem Meister ergehen würde. Die Anhänglichkeit an ihn trieb ihn wahrhaftig. Er konnte sich nicht trennen.
So kommt er mit Hilfe von Bekannten in den Vorhof hinein. In diesem Augenblick verlässt ihn sein Mut. Da ist alles so fremd, wilde Gestalten mit Spießen und Schwertern, viele Leute gehen hin und her, führen gemeine Reden, es wird geflucht, gezecht, gespielt. Da verliert er seine Stimmung. Alles ist so fremd, furchterregend.
Das Herz beginnt zu klopfen; es ist alles anders als vorher. Er gibt die Sache Jesu verloren. „Ich werde ihn nie wieder sehen. Er wird vielleicht hingerichtet. Alles ist aus.“
Das Verhalten des Petrus war eine innere Überrumpelung. Nachher begriff er selbst nicht, wie das geschehen konnte. Die Schuld lag eigentlich nicht in dieser Nacht, sondern in vielen Stunden vorher. Vielleicht war ihm das schon oft gesagt worden: „Petrus, gib acht! Handle nicht vorschnell. Lass erst Ruhe eintreten – und dann rede.“
Es musste zu einem wirklichen Fall kommen, bis er das endlich begriff. Seine Sünde war nicht eine Sünde der Bosheit, sondern der Gefühlsschwäche und Feigheit. Wir sehen, wie notwendig es ist, die Sünde in ihren psychologischen Wurzeln zu begreifen. Wir sehen, wie vorsichtig man im Urteil über Menschen sein soll. Man fällt über einen Menschen her, obwohl man nichts von seinem Leben und der Vorgeschichte der Tat weiß.
III. Der Aufstieg des hl. Petrus
Die Umkehr vollzieht sich in drei Stufen. Die erste Stufe kann Petrus selbst nicht ersteigen, die wird er von Jesus emporgeführt. Er würde den Anfang nicht finden. Wie er noch dasteht, wird Jesus vorbeigeführt. Als der Meister an seinem Jünger vorbeikommt, wendet er sein Haupt und schaut Petrus an.
Da geht ihm ein Licht auf. Jetzt sieht er, was er getan hat. Was mag das für ein Blick gewesen sein! Verwunderung? Eine Frage? Ein Vorwurf? Jesus schaute den Petrus an, gütig, liebevoll wie immer, und das traf den Petrus wie ein Blitz. Nun gingen ihm die Augen auf; nun sah er, was er angerichtet hatte.
Es muss eine innere Berührung der Seele erfolgen, die nur die Gnade bewirken kann. Sie hat Petrus zur Erkenntnis geführt. Die erste Stufe wurde er emporgeführt.
Die zweite Stufe ist schwerer; diese muss er selbst besteigen. Es trifft ihn die Erkenntnis, was er getan hat. Da geht er hinaus und weint bitterlich. Er hätte auch anders reagieren können. Er hätte sich versteifen, hätte zornig werden können: „Ich bin hereingefallen, schlimm genug. Er braucht mich nicht anzusehen, er soll mich in Ruhe lassen, er braucht mir nichts zu sagen.“
So ein Trotz kann kommen, in dem man selbst die liebsten Hände zurückstößt. Man ärgert sich so über das Missgeschick, dass man gar nichts mehr annehmen will, und fällt gerade über die Menschen her, die es gut meinen. Petrus ist dieser Gefahr entgangen.
Er macht keinen Versuch, seinen Fall zu entschuldigen, ihn zu erklären, sich gegen Vorwürfe zu schützen. Nein, er weint, wie nur ein Mann in tiefem Leid weinen kann. Es ist immer etwas Ungewöhnliches, wenn ein Mann weint – und gar einer aus dem einfachen Volk, eine unkomplizierte Seele, die nicht gewohnt ist, viel von inneren Bewegungen zu äußern.
Die dritte Stufe ist die schwerste. Auf sie kommt alles an. Jetzt ist die Gefahr nahe, dass er sagt: „Nun ist es aus mit mir; jetzt kann ich nicht mehr Apostel sein; jetzt darf ich nicht mehr der Felsenmann sein, auf den die Kirche gebaut wird; ich darf Jesus nicht mehr unter die Augen treten, ich bin es nicht wert.“
Gerade die vornehmen Naturen, die feinen Herzen, die guten Seelen sind dieser Gefahr ausgesetzt. Petrus ist ihr entgangen. Das ist das Wunder der Gnade und das unvergängliche Vorbild. Wir sehen es in seiner ferneren Lebensgeschichte.
Er ging wieder zu den Aposteln, aber er ist still geworden. Als Maria Magdalena am Ostermorgen meldet: „Der HERR ist auferstanden“, da laufen die zwei ersten Apostel gleich zum Grabe, und das Wunder begibt sich, dass Petrus nicht der erste sein will. Er lässt Johannes vorangehen und folgt hinterdrein. Er ist stiller, nachdenklicher geworden.
Wir können uns vorstellen, was er sich auf dem Wege zum Grabe gedacht hat. Er muss dahin, das fühlt er, er muss es tun; er will Jesus wieder unter die Augen kommen. Vielleicht hat er auf dem Weg mit sich gekämpft. „Soll ich es wagen? Wie werde ich dastehen? Werde ich vor Scham wagen, ihn anzuschauen?“
Es ist vielleicht der schwerste Weg, den er je gegangen ist. Wenn er in Rom auf den Hügel zum Kreuze geführt wird, wird das ein leichter Weg sein. Er eilt zum Grabe, er will den HERRN sehen, den er verleugnet hat. Er hat die Versuchung bestanden. Er kommt ans Grab, später als Johannes, der auf ihn gewartet hat.
Petrus ist still geworden, aber er ist nicht zerbrochen.
Quelle und FORTSETZUNG der Predigt von Prälat Georg May hier: https://www.glaubenswahrheit.org/predigten/chrono/2022/20220327/