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Voller Wortlaut der Rede von Kardinal Müller am 16. April 2023 in Bünde

Vortragsthema: „Ist die Menschheit noch zu retten?“

Die Existenz der Menschheit steht auf dem Spiel, wenn man die Weltmachtphantasien bestimmter Politiker und die Weltuntergangsszenarien der Klimaaktivisten ernst nimmt.

Hatte noch Francis Fukuyama in seinem Buch „Das Ende der Geschichte“ (1992) nach dem „Fall der Berliner Mauer“, d.h. dem Zusammenbruch des kommunistischen Totalitarismus, hyperoptimistisch die liberale Demokratie (mit ihren Grundzügen der Menschenrechte, des Rechtsstaatsprinzips und der Freien Marktwirtschaft)  auf der Siegerstraße  der Geschichte gesehen, so  kommt uns heute die pessimistische These Samuel Huntingtons von „Kampf der Kulturen“ (1996) hinsichtlich der religiösen, ideologischen und politischen Gegensätze als weitaus plausibler vor.

  1. Rettung der Menschheit durch den absoluten Staat?

 

Wir alle wissen, worum es geht: Die neue Konfrontation zwischen einem amerikanisch-europäischen und einem russisch-chinesischen Machtblock führt die Welt an den Abgrund. Im russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine spitzt sich die Lage zu durch die beidseitige Vorwärtsstationierung von Atomwaffen nach Weißrussland und als westliche Antwort darauf nach Polen.

Niemand weiß, wohin die atomare Aufrüstung Nordkoreas führt oder das Kernwaffenprogramm des Iran, der das Existenzrecht Israels in Frage stellt. Höchst gefährlich sind Chinas militärische Übungen zur Eroberung Taiwans Chinas mit der frivolen Inkaufnahme eines Krieges im Pazifik, in den die ganze Welt hineingezogen würde.

Das ist nur das Schreckensszenario in der ersten Gewalt-Liga, das mit den kriegerischen und kriminellen Exzessen in den mittleren Diktaturen oder der egoistischen Interessenpolitik anderer Regionalmächte global vernetzt ist. Die Schreckensvision von einem sich anbahnenden Dritten und damit Letzten Weltkrieg, die Papst Franziskus beschworen hat, wird geopolitisch immer wahrscheinlicher. Jedenfalls spielen die Haupakteure völlig verantwortungslos mit dem Feuer.

Für den Erhalt und die grenzenlose Erweiterung ihrer Macht  setzten sie das Glück und das Leben von Millionen Menschen aus Spiel. Von den Weltreichsgründern von Alexander dem Großen über Cäsar bis Napoleon und Hitler oder auch den GEO’s des militärisch-technischen Komplexes war und ist niemals die Rettung der Welt zu erwarten.

Sie geben sich als die Retter der Probleme aus, die sie selbst verursacht haben durch ihren Hochmut und ihren Leichtsinn. 

Ganz offensichtlich war es nicht nur das SARS-CoV-2 Virus allein, das die verheerende Corona-Krise verursachte. Auch die kopflose und inkompetente Reaktion von politisch Verantwortlichen war mitverantwortlich für die Kollateralschäden, an der Millionen Menschen  zu leiden haben.

  1. Können wir von Ideologen die Rettung erwarten?

 

Die Klimakleber der „letzten Generation“ beziehen die Legitimität ihrer apokalyptischen Visionen oder Kassandrarufe aus der Angst vor der Unbewohnbarkeit unseres Planeten wegen der Erderwärmung durch fossile Brennstoffe während die „Experten“ noch vor 50 Jahren die Gefahr einer neuen Eiszeit an die Wand malten.

Die fortschreitende Unterwanderung der freiheitlichen Demokratien durch einen manipulativen Zugriff auf das individuelle und kollektive Bewusstsein formuliert der italienische Autor Cristiano Ceresani ironisch zugespitzt so: „Facebook definiert, wer wir sind, Amazon, was wir wollen, und Google, was wir denken.“[1]

BigTech und BigPharma, die monopolisierten Medien der Massenkommunikation und der militärisch-politische Komplex haben die totale Sozialkontrolle übernommen. Über linientreue Medien lassen die Machthaber ihre Ideologien als absolute Wahrheit verkünden, deren Relativierung gerichtlich als Straftat der Hatespeech geahndet werden kann. Gut bezahlte Faktenchecker bestätigen zuverlässig die regierungsamtliche Meinung als die einzig wissenschaftlich vertretbare Position.

Man muss sich auch fragen, ob wir nicht so sehr physisch als mental noch zu retten sind, wenn in genderideologisch beherrschten Regierungen offiziell die Bezeichnungen Vater und Mutter aus den standesamtlichen Registern gestrichen werden sollen. Dass die Frau, die mich geboren hat, meine Mutter ist im Unterschied zu allen anderen Frauen der Welt, das ist eine biologisch basiertes historisches Faktum,  an dem nominalistische Begriffsverwirrungen nichts ändern können.

Es ist  der erschütternde Offenbarungseid des neuen Antihumanismus, wenn die persönlichste und liebvollste Beziehung zwischen Mutter und Kind, auf einen Re-Produktionsvorgang reduziert wird oder mein Vater und meine Mutter in meiner standesamtlichen Geburtsurkunde als meine Erzeuger A und B entmenschlicht werden nur weil ein minderbemittelter Ideologe es so will.  

Das Wesen aller politischen Ideologien seit ihrer Entstehung im 18. Jahrhundert ist die Realitätsverweigerung, die immer desaströse Folgen für den Menschen und die Menschlichkeit hatte. Es geht dabei im Grunde immer um die Erschaffung des neuen Menschen und die Selbsterlösung durch eine Erziehungsdiktatur  oder die Konzentration aller politischen und wirtschaftlichen Macht, aller kulturellen und  wissenschaftlichen Energien in der Hand einer allwissenden Partei und ihres allmächtigen Führers, der sich als Herr über Leben und Tod ausgibt. 

Das nihilistische Gefühl der Leere, das sich mit dem Verlust des Glaubens an den lebendigen Gott in den Ländern der abendländischen Christenheit zwangsläufig einstellte, musste mit dem Religionsersatz der Selbsterlösungsideologien  betäubt werden.

Das daraus entstandene Programm eines „ atheistischen Humanismus ohne Gott“[2],  das die materialistische und positivistischen Philosophie der Religionskritik von Auguste Comte und Ludwig Feuerbach bis Karl Marx und Friedrich Nietzsche intendierten, ist mit dem Zeitalter der Weltkriege und des ideologischen und politischen Totalitarismus, der ideologisch bedingten Massenvernichtung gescheitert.

Der Terrorismus der Jakobiner, der Nationalsozialisten und der Sowjetkommunisten bis hin zu den Diktaturen in China waren nicht Rückfälle in das finstere Mittelalter, sondern Vorfälle in die „Schöne Neue Welt“ des Aldous Huxley und George Orwells Überwachungsstaat im Roman „1984“, die schon Hugh Benson in seinem Buch „Der Herr der Welt“ unheilvoll prophezeit hatte. 

Doch als die Menschheit erwachte, befand sie sich in den Schrecken der beiden Weltkriege, der Genozide von Auschwitz bis GULag  in den totalitären Staaten mit faschistischen und kommunistischen Ideologien, des internationalen Terrorismus, der organisierten Kriminalität mit  dem mafiosen Menschenhandel, der unzähligen lokalen Konflikte und der wachsenden Schere zwischen den wenigen reichen und mächtigen Oligarchen und den rechtlosen und verarmten Massen.

Die gründlichste Analyse zu den Ursachen und verheerenden Folgen einer pervertierten Macht-Politik verdanken wir Hannah Arendt in ihrem Buch von 1951: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus und totale Herrschaft.“[3]

Es das untrügliche Zeichen für die ideologische Unterwanderung  von Demokratien, die auf den naturrechtlich begründeten Menschenrechten beruhen, wenn alle nichtmarxistischen Positionen in Religion, Ethik und Philosophie als verschwörungstheoretisch und rechtsradikal und gebrandmarkt werden, so wie jetzt Putin seine Verbrechen gegen die Ukraine mit deren angeblichem Faschismus und Antisemitismus rechtfertigt oder so wie im Jahre 1957 Mao-Tse-tung mit seiner Anti-Rechts-Bewegung zur Säuberung der Volksrepublik China von den „Rechten“ zwei Millionen Menschen über die Klinge springen ließ.

Eine Verfassungsdemokratie schließt dagegen den Antagonismus von links- und rechtsradikalen Ideologien aus, weil sie Religions- Wissenschafts- und Meinungsfreiheit als in der geistigen-sittlichen Natur begründet sieht.

„Der Staat ist für den Bürger da,
nicht der Bürger für den Staat“

Die grundlegenden Menschen- und Bürgerrechte bedürfen keiner staatlichen Lizenz. Sie unterliegen auch keiner obrigkeitlichen Kontrolle. Politische Kräfte wirken in einer echten Demokratie nur dann konstruktiv für das Gemeinwohl, wenn sie die Grundregel beachten: Der Mensch als Person und soziales Wesen geht dem Staat ontologisch voraus. Deshalb ist der Staat für den Bürger da und nicht der Bürger für den Staat.

Gegen Pilatus, den Vertreter absoluter irdischer Macht, sagt Jesus: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Joh 18, 36). Die Imperien, die durch Gewalt und Propaganda zustande kommen, sind das Gegenteil  zum Reich Gottes, das Jesus gewaltlos verkündet hat mit dem Evangelium für die Armen, der Heilung der Kranken und der Reintegration der Ausgestoßenen (Lk 4,18).

Und  bei der endgültigen Konfrontation der politischen Macht des Kaisers und der messianischen Vollmacht  des Sohnes Gottes bekennt Jesus: „Ja, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege: Jeder, der aus der Wahrheit ist hört auf meine Stimme“ (Joh 18,37).

Das ist die Erkenntnis der Wahrheit, welche die den Menschen frei macht (Joh 8, 32) und die uns Hoffnung gibt nicht nur im Leben sondern auch im Sterben (vgl. 1 Kor 15, 19). Völlig realistisch hat Jesus den egoistischen Machttrieb als die Triebfeder der Weltpolitik erkannt: „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und ihre Macht missbrauchen  und sich doch von ihnen Wohltäter oder Philanthropen nennen lassen (vgl. Mk 10, 42; Lk 22, 22,26).

Dietrich Bonhoeffer hat nach dem Scheitern des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944, als er schon den Tod vor Augen hatte, die Aufgabe der Kirche in der Welt von heute im Gegensatz zur Arroganz der Macht so definiert:

„Die Kirche muss den Menschen aller Berufe sagen, was ein Leben mit Christus ist, was es heißt ‚für andere dazusein‘. Speziell wird unsere Kirche den Lastern der Hybris, der Anbetung der Kraft und des Neides und des Illusionismus als den Wurzeln allen Übels entgegentreten müssen. Sie wird von Maß, Echtheit, Vertrauen, Treue, Stetigkeit, Geduld, Zucht, Demut, Bescheidenheit, Genügsamkeit sprechen müssen. Sie wird die Bedeutung des menschlichen Vorbildes (das in der Menschheit Jesu seinen Ursprung hat und bei Paulus so wichtig ist) nicht unterschätzen dürfen; nicht durch Begriffe, sondern durch Vorbild bekommt ihr Wort Nachdruck und Kraft.“[4]

  1.  Rettung durch die totale Technologisierung des Menschen?

 

Wenn der Staat uns nicht retten kann, können wir dann auf die moderne Technologie hoffen, mit deren Hilfe wir einen neuen, unsterblichen Über-Menschen schaffen können?

Der Club of Rome und andere exklusive Eliten bis zu den Protagonisten einer Neuen Weltordnung auf der Basis der technologischen Revolution sehen in der so genannten Überbevölkerung der Erde wegen der begrenzten Ressourcen die eigentliche Bedrohung für eine zukünftige Menschheit. Zu ihr zu gehören sei allerdings das Vorrecht der die Supermilliardäre.

Und es verbindet sich mit der expotentiellen Steigerung der Artifiziellen Intelligenz die trügerische Hoffnung, dass die finanziell-industrielle Elite sich an die Stelle Gottes setzt und zumindest demiurgisch den neuen Menschen, den Übermenschen oder den autonomen und regenerativen Roboter konstruiert, der die menschliche Spezies als evolutives Relikt hinter sich lässt.

Trotz der krachend gescheiterten Programme des liberal-bürgerlichen Glaubens an die sittliche Selbstperfektionierung des Menschen und des sozialistischen Experiments eines materialistischen Paradieses auf Erden erhebt sich der quasi-religiöse Glaube an eine Selbsterlösung  des Menschen auf seine letzte Stufe: nämlich des Trans- und Posthumanismus.

Der Millionen-Bestseller von Yuval Noah Harari erklärt schon im Titel, wohin die Reise geht: „Homo Deus. Eine Geschichte von morgen.“[5]  Es geht also nicht um das Gestern der Schöpfung unserer statisch-konstanten Natur durch einen transzendenten Gott, sondern um das Morgen eines zukünftigen Menschen, der sich dynamisch stets selbst produziert und optimiert und damit sich selbst sein Gott ist.

Schon im 19. Jahrhundert hatte Ludwig Feuerbach gemeint, dass die Aussagen über einen transzendenten Gott eigentlich nur die Projektion sind des idealen Menschen, der sich nun selbst der wirkliche Gott ist. „Homo homini Deus est“, lautete der Slogan.[6] Friedrich Nietzsche wollte nach dem „Tod Gottes“ die Höherentwicklung des Menschen zu einem Übermenschen. Dieser habe das Recht, rücksichtslos seine Macht zu entfalten ohne Rücksicht auf die Stoppschilder der christlichen Mitleidsmoral.[7]

Durch die Entwicklung einer Computer-gestützten „Superintelligenz“ (Nick Bostrom)[8] aufgrund einer neuronalen Vernetzung von Gehirn und Computer und mit den Möglichkeiten den Genmanipulation könne am Ende die Überwindung der biologischen Spezies des Homo sapiens erreicht werden (Ray Kurzweil).[9]

Womöglich werde man über die Zwischenstufe eines biotechnologischen Hybrids, eines Cyburgs, am Ende eine künstliche Intelligenz erreichen, die nicht einmal mehr eines biologischen Stoffes als materieller Basis bedarf. Allein ein technisches Produkt, also ein Supercomputer in der Gestalt eines menschenähnlichen Roboters, wird dann die Basisstation sein, auf die ein natürliches oder künstliches Bewusstsein hochgeladen wird.  Damit könne man -jenseits der religiösen und mythologischen Phantasiewelten- endlich den Traum der Menschheit von Unsterblichkeit auf wissenschaftlicher Basis technologisch verwirklichen.

  1. Die suizidale Illusion des Posthumanismus

 

Die über die Zukunft der Menschheit entscheidende Herausforderung  besteht in der philosophischen und theologischen Frage nach dem Wesen und Ziel des Menschseins überhaupt. Beginnt mit der Künstlichen allgemeinen Intelligenz (AGI)  das Great Reset als total neuer Anfang einer virtuellen Welt? Kann der Mensch durch eine technologische Revolution ersetzt oder gemäß der evolutiven Strategie des Überlebens des Fittesten zu einer defizienten Vorstufe der kommenden Hyperintelligenzen degradiert werden? Besteht die Rettung der Menschheit in der Transition von der realen zur virtuellen Welt?

Es stellt sich also über die Fragen hinaus, was wir technisch können und ethisch dürfen, die umfassende Frage nach der Identität des Menschen, der menschlichen Natur und der Einzigartigkeit seines Seins als Person. Über die instrumentelle  Vernunft hinaus, mit der der Mensch seine  biologischen und sozialen Lebensbedingungen sichern kann, steht die Vernunft vor der Frage nach dem Sinn des Seins überhaupt und damit vor der Frage nach dem ersten Ursprung und dem letzten Ziel menschlicher Existenz in der kontingenten Welt. 

Die Naturwissenschaften haben nur die materielle Welt  als Summe von Masse und Energie im Blick, die sie mathematisch erfassen. Mit den empirischen Wissenschaften allein können wir nicht das geistig-sittliche Wesen des Menschen erfassen und die geistige Transzendenz auf den absoluten Seins-Grund vollziehen. Aber in der Astrophysik und den Quantenmechanik oder der Evolutionsbiologie kommt die Vernunft bei der Frage nach der Entstehung des Lebens und dem Auftreten von Geist als das radikal Andere zur Materie in die Nähe des Fragens nach dem Gott als Ursprung und Ziel  der Welt.

  1. Die tieferen Fragen der Menschheit

 

Koexistent mit der geistig-sittlichen Existenz des Menschen sind die Fragen:
Woher kommen wir?
Wohin gehen wir?
Was ist der Mensch?

Entweder gehe ich von einem nihilistischen Apriori aus und dann ist die Welt eine Summe der Sinnlosigkeiten, denen ich existentialistisch einen Sinn  autonom zuschreibe oder abringe (Jean Paul Sartre, Albert Camus).  Ich kann auch in der zynischen Dekonstruktion des Sinns von Sein landen. Der rumänisch-französische Philosoph Emil Cioran (1911 – 1995) drückt seinen absoluten Nihilismus schon im Titel seiner Bücher aus: „Auf den Gipfeln der Verzweiflung“ (1934) oder „Vom Nachteil geboren zu sein“ (1973).

Oder ich gehe von der begründeten Überzeugung aus, dass das Sein sich einer höheren Macht – oder christlich gesprochen dem personalen Schöpfer – verdankt. Das Sein ist das,  was sich in der  Welt des Materiellen, Lebendigen und Geistigen  sich als dessen Grund, Sinn und Ziel zeigt.

Das II. Vatikanische Konzil umschreibt die Stellung des Menschen in der heutigen Welt so:

„In Wahrheit hängen die Störungen des Gleichgewichts, an denen die moderne Welt leidet, mit jener tiefer liegenden Störung des Gleichgewichts zusammen, die im Herzen des Menschen ihren Ursprung hat…Viele glauben, in einer der vielen Weltdeutungen ihren Frieden zu finden. Andere wieder erwarten vom bloßen menschlichen Bemühen die wahre und volle Befreiung der Menschheit und sind davon überzeugt, dass die künftige Herrschaft des Menschen über die Erde alle Wünsche ihres Herzens erfüllen wird.

Andere wieder preisen, am Sinn des Lebens verzweifelnd, den Mut derer, die in der Überzeugung von der absoluten Bedeutungslosigkeit der menschlichen Existenz versuchen, ihr nun die ganze Bedeutung ausschließlich aus autonomer Verfügung des Subjekts zu geben. Dennoch wächst angesichts der heutigen Weltentwicklung die Zahl derer, die die Grundfragen stellen oder mit neuer Schärfe spüren: Was ist der Mensch? Was ist der Sinn des Schmerzes, des Bösen, des Todes – alles Dinge, die trotz solchen Fortschritts noch immer weiterbestehen? Wozu diese Siege, wenn sie so teuer erkauft werden mussten? Was kann der Mensch der Gesellschaft geben, was von ihr erwarten? Was kommt nach diesem irdischen Leben?“ (Pastoralkonstitution Die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes“ 10).

Es gilt die „Zeichen der Zeit“ zu erkennen sowohl in den sich überstürzenden Katastrophen bis zur möglichen atomaren oder biologischen Selbstzerstörung der Menschheit und der Ruinierung der Erde als ihrem gemeinsamen Haus als auch im Abfall weiter Teile der Christenheit von Gott und der doktrinellen Konfusion des geoffenbarten Glaubens.

„Mit Hilfe der Gnade Gottes die Gefahr der Selbstzerstörung beherrschen“

Im Letzten geht es jenseits von Fortschrittsoptimismus und pessimistischer Untergangsstimmung um die Chancen und Risiken der Bio-Technologie und der Robotik der künstlichen Superintelligenz. Solange der Mensch ein personales Ich-Subjekt in der Verantwortung vor Gott und den Mitmenschen bleibt, das diese komplexen technischen Möglichkeiten instrumental nutzt zur Verbesserung seiner Lebenskonditionen, kann mit Hilfe der Gnade Gottes die Gefahr der Selbstzerstörung  beherrscht werden.

Also nur wenn die Vernunft nicht utilitaristisch auf ihren instrumentalen Gebrauch eingeschränkt wird, können wir mit ihrer Hilfe zu verstehen versuchen, was tatsächlich vorgeht, wie die Motive der Akteure der Weltgeschichte moralisch zu bewerten sind und ob es noch Hoffnung auf Rettung gibt.

Die letzte Alternative lautet: Sollen wir unser ganzes Vertrauen setzen auf gewalttätige, verlogene, zynische Machthaber, die in totalitären politischen und technokratischen Systemen uns zur Verfügungsmasse von Sozialingenieuren und Biodesignern erniedrigen? Oder sollen wir zuerst und zuletzt unser ganzes Vertrauen auf Gott setzten, der uns nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat und der allein in der Lage ist uns zu retten von dem Bösen, dem Leiden und dem Tod.

Heidegger: „Nur ein Gott kann uns noch retten“

Im berühmten Spiegel-Gespräch 1976 hatte Martin Heidegger im Hinblick auf den nihilistisch verfahrenen Weltzustand den Satz gesprochen:
„Nur ein Gott kann uns noch retten. Die einzige Möglichkeit einer Rettung sehe ich darin, im Denken und Dichten eine Bereitschaft vorzubereiten für die Erscheinung des Gottes oder die Abwesenheit des Gottes im Untergang; dass wir nicht, grob gesagt, ‚verrecken‘, sondern, wenn wir untergehen, im Angesicht des abwesenden Gottes untergehen.“
[10]

Wenn hier Heidegger von Gott spricht, ist  vielleicht noch nicht sich der Gott der jüdisch-christlichen Glaubenstradition gemeint. Das gilt ebenso von Max Horkheimer, der aber doch angesichts des radikal Bösen, wie es in Auschwitz kulminierte, die Theologie als Ausdruck der Hoffnung definiert, „dass es bei diesem Unrecht, durch das die Welt gekennzeichnet ist, nicht bleibe, dass das Unrecht nicht das letzte Wort habe.“[11]

  1. Die christliche Botschaft von der Erlösung der Menschen

 

Zum großen geistlichen Vermächtnis Papst Benedikts XVI. gehört die oft wiederholte Einsicht, dass das Christentum keine philosophische Idee ist zur Erklärung der Welt oder ein politisches Programm zur Herstellung eines Paradieses auf Erden.

Die Wahrheit des Christentums zeigt sich in der Beziehung zu dem konkreten historischen Menschen Jesus von Nazareth. In ihm sind aber alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis enthalten. Sein menschliches Dasein bis zum Kreuz und seiner Auferstehung von den Toten und sein Wirken als Prophet und Mittler des eschatologischen Reiches Gottes subsistiert in der göttlichen Person des Sohnes, der mit dem Vater und  dem Heiligen Geist der eine und dreifaltige Gott ist.

Weil Jesus das Fleisch gewordene Wort Gottes ist, darum ist er auch der einzige Retter der Welt. Zwischen Gott und jedem Menschen kann nur Jesus Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch, der einzige Mittler der Erkenntnis der Wahrheit und der Erlangung des Heils sein.

Unter der Voraussetzung des christlichen Glaubens ist es der Logos, die Vernunft und das Wort Gottes, durch das alles geworden ist und in dessen Licht wir uns selbst, den Sinn des Seins, das Ziel und Ende der Weltgeschichte verstehen. Und vom Wort Gottes, das in Jesus Christus unsere sterbliche Natur und unser leidensfähiges Fleisch angenommen hat, erwarten wir – im Unterschied zu der von Menschen gemachten Neuen Weltordnung- die neue Schöpfung, in der nicht mehr die Gier nach Macht, Geld und Ruhm regieren, sondern in der „der Tod nicht mehr sein wird, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal“ (Offb 21, 4).

Der Gott des christlichen Bekenntnisses ist keine philosophische Idee oder eine mathematische Summenformel, sondern der menschenfreundliche Gott des Bundes und des Evangeliums. Der Gott Abrahams, Issak und Jakobs ist auch der Vater Jesu. Zu ihm sagte den Simon Petrus: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Mt 16,16).

  1. Ist also die Menschheit noch zu retten?

 

Darauf kann kein Mensch in der Form der Prognose einer konkreten weltimmanenten Zukunftsvision antworten. Denn die „Gestalt dieser Welt vergeht“ (1 Kor 7, 31). Unzerstörbar aber ist ihre Bestimmung zum Sein und Gott bleibt treu in der Berufung jedes Menschen zum ewigen Leben. „Denn Gott hat den Tod nicht gemacht und hat keine Freude am Untergang der Lebenden. Zum Dasein hat er alles geschaffen, heilbringend sind die Geschöpfe der Welt“ (Weish 1, 14).

Deswegen war nichts umsonst, was wir im Leben Gutes getan haben- in Gedanken, Worten und Werken. Aber wir können uns auch nicht für unsere bösen Taten aus der Verantwortung stehlen, wie es Hitler und Himmler mit ihrem Selbstmord versuchten. Mit dem Tode ist nicht alles aus, sondern alles fängt an. Das Licht geht nicht aus, sondern das ewige Licht leuchtet uns, in dem wir alles verstehen.

Der Glaubende bekennt sich zu Gott und betet zu ihm: „Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, und in deinem Licht schauen wir das Licht“ (Ps 36, 10).

Diese Hoffnung der Christen, dass  Gott allein als der Schöpfer der Welt auch nur allein der Erlöser der Menschheit sein kann, bewahrt vor der tödlichen Alternative, entweder uns selbst erlösen zu müssen oder nihilistisch zu verzweifeln. Gerade die Orientierung an Gott macht uns fähig unsere Verantwortung für die Mitmenschen und die Welt zu übernehmen.

Die doppelte Sendung der Kirche zur Christianisierung und Humanisierung der Welt beschreibt das II. Vatikanische Konzil so:
„In Verfolgung ihrer eigenen Heilsabsicht vermittelt die Kirche nicht nur den Menschen das göttliche Leben, sondern lässt dessen Widerschein mehr oder weniger auf die ganze Welt fallen, vor allem durch die Heilung und Hebung der menschlichen Person-Würde, durch die Festigung des menschlichen Gemeinschaftsgefüges, durch die Erfüllung des alltäglichen menschlichen Schaffens mit tieferer Sinnhaftigkeit und Bedeutung. So glaubt die Kirche durch ihre einzelnen Glieder und als ganze viel zu einer humaneren Gestaltung der Menschenfamilie und ihrer Geschichte beitragen zu können.“
(Gaudium et spes 40).

Und wenn mich einer heute 75 Jahre nach meiner Taufe und 45 Jahre nach meiner Priesterweihe fragt, ob ich meine Hoffnungen nicht doch besser gesetzt hätte auf mächtige Politiker, auf prominente Ideologen, geniale Erfinder oder milliardenschwere Oligarchen und  narzisstische Philanthropen statt auf einen vor 2000 Jahren zum Tod am Kreuz verurteilten Juden, dann antworte ich ihm mit dem Bekenntnis eines einfachen Fischers vom See Genezareth.

Was Simon Petrus mit christlicher Freimut vor den Mächtigen seiner Zeit bekannt hat, das ist auch mein Glaube: „Jesus ist der Stein, der von den Bauleuten verworfen wurde, der aber zum Eckstein geworden ist. Und in keinem anderen ist das Heil zu finden. Denn es ist uns Menschen kein anderer Name gegeben unter dem Himmel, durch den wir gerettet werden sollen“ (Apg 4, 12).

Es gibt nur zwei Möglichkeiten, die der Prophet Jeremia ausgesprochen hat: „Verloren ist der Mann, der auf Menschen vertraut, auf schwaches Fleisch sich stützt… Gesegnet aber ist der Mensch, der sich auf Gott verlässt und dessen Hoffnung der Herr ist“ (Jer 15,5.7). Tertium non datur.

Quellenangaben:

  • [1] Cristiano Ceresani, Èschaton. Gesù di Nazareth e il Futuro del Mondo, Siena 2022, 498.
  • [2] Henri de Lubac, Über Gott hinaus. Tragödie des atheistischen Humanismus,, Einsiedeln 1984.
  • [3] München 21. Aufl. 2021.
  • [4] Dietrich Bonhoeffer Widerstand und Ergebung Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. Christian Gremmels u.a., München 1998,  560f.
  • [5] Yuval Noah Harari, Homo Deus. A Brief history of Tomorrow, 2015.
  • [6] Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums (1841):  Werke in sechs Bänden 5, hg. v.  Erich Thies, Frankfurt a. M. 1976, 338.
  • [7] Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra IV, 1: Kritische Studienausgabe 4, hg. V. G. Colli u. M. Montinari, München 1980, 357
  • [8] Nick Bostrom, Superintelligence. Paths, Dangers, Strategie, Oxford 2014.
  • [9] Ray Kurzweil, The Age of Spiritual Machines, 1999.
  • [10] Martin Heidegger, Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, hg. v. G. Neske u. E. Kettering,  Pfullingen  1988, 99f.)
  • [11] Max Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Ein Interview mit Kommentar von Helmut Gumnior, Hamburg 1970, 61.

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WIR DANKEN Kardinal Müller für die freundliche Erlaubnis zur Veröffentlichung seines Vortrags

HIER unser Bericht über diese Veranstaltung in Bünde: https://christlichesforum.info/veranstaltung-mit-kardinal-mueller-in-buende-prominente-gaeste-und-stehende-ovationen/

Passend dazu ein INTERVIEW mit Kardinal Müller „Was ist Wahrheit?“ von Martin Lohmann: https://www.youtube.com/watch?v=zfnofkGYQko

Gemälde: Evita Gründler – Fotos: Felizitas Küble, Archiv

Kommentare

2 Antworten

  1. Ein Gedanke aus der Fülle von Informationen und Nachdenkenswertem hat mich sofort fasziniert: „Facebook definiert, wer wir sind, Amazon, was wir wollen, und Google, was wir denken.“ Ein sehr treffendes Zitat unserer Zeit! „Eschaton“ ist der Titel des Buches, aus dem es entnommen ist. Auch das passt wie der sprichörtliche Deckel zum Topfe.
    Das scheint sehr lesenswert zu sein, ob es dieses Buch auch in deutscher Sprache gibt?

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