Wilderich Freiherr von Ketteler-Tinnen
Es war einmal…? Nein, es ist – ein Esel. Wenn überhaupt, taugt er dazu, Lasten zu tragen. Die Menschen mögen ihn und verachten ihn gleichzeitig. Er gilt als stur, als eigenwillig. So ganz versteht ihn wohl niemand.
Aus Hilflosigkeit wird er dann geschlagen, damit er weiter trottet. Widerwillig bleibt die Ahnung, man könne ihn unterschätzen. Er wisse vielleicht Bescheid – mehr als man selber: Der Esel. 
Also: Es war einmal ein Esel, der weidete zusammen mit Schafen und mit deren Hirten auf einer nur dünn bewachsenen Weide; eigentlich eher eine Felslandschaft, mit nur ab und zu Grasbewuchs dazwischen.
Der Hirte, er hiess Anton, hatte sich daran gewöhnt, dem Esel nachzugehen und die Schafe mit zu treiben, denn der Esel – er hiess Caro – konnte das Gras wachsen hören. Caro war schon alt, wie alt genau, wusste niemand.
Er hatte nur ein einziges Ohr, das andere hatte ein Wolf ihm abgebissen. Er hatte den Wolf zwar mit einem Eseltritt gegen den Kopf besiegt. Der Wolf war gefallen und hatte sich nicht mehr gerührt; erst nach Stunden hatte er sich davongemacht – mit eingezogener Rute.
Anton konnte sich auf Caro verlassen
Doch die Wunde hat bei Caro lange nachgeblutet. Er mußte sich mit seinem ganzen Kopf in heilende Kräuter legen, um die Blutung zu stillen. Schliesslich konnte er weiter nach Gras suchen – für den Hirten Anton, der das nicht konnte, und die Schafe, die es brauchten. 
Anton wunderte sich und schüttelte vor Erstaunen den Kopf, denn es schien ihm, als könne Caro mit einem Ohr besser hören als zuvor mit seinen zwei Ohren. Er wendete den Kopf immer hin und her. Und dann, wenn er sich sicher war, trabte er weiter in bestimmter Richtung; und er fand Weidegrund und Wasser – auch das benötigten die Schafe und ihr Hirte. Jedenfalls konnte sich Anton auf Caro verlassen.
Eines nachmittags schrie Caro plötzlich immer wieder und scharrte mit seinen Hufen: Er lief voraus, schneller als sonst, kam zurück und lief wieder voraus, bis Anton ihm mit seinen Schafen folgte. Es wurde dunkel, und Anton wusste nicht mehr, wohin der Esel eigentlich wollte. Doch ging er ihm weiter nach – wie immer eben.
Folgte der Esel dem Stern?
Da fiel ihm auf, dass über ihnen ein ungewöhnlich heller Stern zu sehen war. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, Caro folge dem Stern.
Doch dazu passte nicht, dass der Esel immer wieder sein einziges Ohr nutzte, um die Richtung zu finden; er schien ganz nach Gehör zu gehen. Schliesslich – wie merkwürdig: Der Stern blieb stehen, Anton sah einen Stall; eigentlich eher nur ein Dach, das auf Balken gestützt war. Nur ein paar Bretterwände schützten vor Wind und Kälte. 
Jetzt hörte Anton es auch: Ein kleines Kind weinte, es schluchzte wie ein Baby. Sie kamen näher; der Esel voraus. Caro lief immer schneller; so schnell hatte er vorher niemals Heu und Wasserflaschen getragen.
Das Baby in der Futterkrippe
Als Anton, völlig ausser Atem, endlich hinterher kam, sah er die Bescherung: Der Esel hatte sich an einer Krippe niedergelassen. Einer Futterkrippe. Wie immer hatte Caro das Futter gefunden. 
Diesmal jedoch etwas ganz Besonderes: denn auf dem Heu lag ein neugeborenes Kind, nur notdürftig zugedeckt mit einigen Tüchern. Daneben kniete die Mutter. Kind und Mutter waren so schön anzusehen, dass es dem Hirten Anton in den Ohren sang.
Nein – er hörte tatsächlich Gesang – überall umgab den armseligen Stall Musik, wie Anton sie nie gehört hatte. Und das Kind in der Krippe strahlte; es hatte aufgehört zu weinen; es lächelte Anton an und ihm wurde dabei so warm um’s Herz, als hätte er seine Ration Schnaps auf einmal ausgetrunken.
Ganz unwillkürlich kniete er nieder vor diesem Kind.
Caro erlebt sein goldenes Wunder
Im Hintergrund gewahrte er noch jemanden: es musste wohl der Vater des Kindes sein? Jedenfalls ein Mann, in Reisekleidern, der eine Laterne in der Hand hielt, um der Mutter des Kindes behilflich zu sein. Es war alles sehr erstaunlich. 
Und nun war ihm, als wende das Kind seinen Blick zu Caro. Der Esel schnaubte und sprach ganz leise sein iiiiaaaa, iiiiaaaa….
Und da, o Wunder, was sah Anton: Dem Esel wuchs ein neues Ohr aus der Wunde, die der Wolf gerissen hatte. Ein Ohr, wunderschön anzusehen, als wäre es aus purem Gold.
Caro hatte sich so gelegt, dass die Wunde ganz nah bei dem Kind war. Und das Neugeborene hatte sein Ärmchen ausgestreckt, und so war das goldene Ohr gewachsen. Nun wusste Anton endlich Bescheid; ihm war auch klar, warum er Engel singen hörte, obwohl er gar nichts getrunken hatte.
Er warf sich vornüber auf den Boden und betete das Kind an.
Titelbild: Baron Wilderich v. Ketteler-Tinnen




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2 Antworten
Soo schön ! Danke werde es an meine Enkel…! weiterleiten.
Hm -ja !