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Wortlaut der Papst-Ansprache beim Treffen mit evangelischen Repräsentanten am 23.9.2011

Widersetzen wir uns der Gefahr, den Glauben zu verdünnen!

Liebe Brüder und Schwestern!
Wenn ich hier das Wort ergreife, möchte ich zunächst für diese Gelegenheit danken, mit
Ihnen zusammenzukommen. Mein besonderer Dank gilt dabei Präses Schneider, der mich
willkommen geheißen und mich durch seine freundlichen Worte in Ihre Runde aufgenommen hat.

Danken möchte ich zugleich für das besondere Geschenk, daß unsere Begegnung an diesem
historischen Ort stattfinden kann.

Es ist für mich als Bischof von Rom ein bewegender Augenblick, hier im alten Augustinerkloster zu Erfurt mit Vertretern der EKD zusammenzutreffen. Hier hat Luther Theologie studiert. Hier ist er 1507 zum Priester geweiht worden. Gegen den Wunsch seines Vaters ist er nicht beim Studium der Rechte geblieben, sondern hat Theologie studiert und sich auf den Weg zum Priestertum in der Ordensgemeinschaft des heiligen Augustinus gemacht.

Auf diesem Weg ging es ihm nicht um dies oder jenes. Was ihn umtrieb, war die Frage nach Gott, die die tiefe Leidenschaft
und Triebfeder seines Lebens und seines ganzen Weges gewesen ist. „Wie kriege ich einen gnädigen
Gott“: Diese Frage hat ihn ins Herz getroffen und stand hinter all seinem theologischen Suchen und
Ringen. Theologie war für ihn keine akademische Angelegenheit, sondern das Ringen um sich selbst  –
und dies wiederum war ein Ringen um Gott und mit Gott.

„Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“  –  Daß diese Frage die bewegende Kraft seines ganzen
Weges war, trifft mich immer neu. Denn wen kümmert das eigentlich heute – auch unter
Christenmenschen?

Was bedeutet die Frage nach Gott in unserem Leben? In unserer Verkündigung? Die meisten Menschen, auch Christen, setzen doch heute voraus, daß Gott sich für unsere Sünden und Tugenden letztlich nicht interessiert. Er weiß ja, daß wir alle nur Fleisch sind. Sofern man heute überhaupt an ein Jenseits und ein Gericht Gottes glaubt, setzen wir doch praktisch fast alle voraus, daß Gott großzügig sein muß und schließlich mit seiner Barmherzigkeit schon über unsere kleinen
Fehler hinwegschauen wird.

Aber sind sie eigentlich so klein, unsere Fehler? Wird nicht die Welt verwüstet durch die Korruption der Großen, aber auch der Kleinen, die nur an ihren eigenen Vorteil denken? Wird sie nicht verwüstet durch die Macht der Drogen, die von der Gier nach Leben und nach Geld einerseits, andererseits von der Genußsucht der ihr hingegebenen Menschen lebt?

Wird sie nicht bedroht durch die wachsende Bereitschaft zur Gewalt, die sich nicht selten religiös verkleidet?
Könnten Hunger und Armut Teile der Welt so verwüsten, wenn in uns die Liebe zu Gott und von ihm her die Liebe zum Nächsten, zu seinen Geschöpfen, den Menschen, lebendiger wäre?   – So könnte man
fortfahren.

Nein, das Böse ist keine Kleinigkeit. Es könnte nicht so mächtig sein, wenn wir Gott wirklich in die Mitte unseres Lebens stellen würden. Die Frage: Wie steht Gott zu mir, wie stehe ich vor Gott – diese brennende Frage Martin Luthers muß wieder neu und gewiß in neuer Form auch unsere Frage werden. Ich denke, daß dies der erste Anruf ist, den wir bei der Begegnung mit Martin Luther hören sollten.

Und dann ist wichtig: Gott, der eine Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, ist etwas anderes als eine philosophische Hypothese über den Ursprung des Kosmos. Dieser Gott hat ein Gesicht und er hat uns angeredet. Er ist im Menschen Jesus Christus einer von uns geworden – wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich.

Luthers Denken, seine ganze Spiritualität war durchaus christozentrisch: „Was Christum treibet“, war für Luther der entscheidende hermeneutische Maßstab für die Auslegung der Heiligen Schrift. Dies aber setzt voraus, daß Christus die Mitte unserer Spiritualität und daß die Liebe zu ihm, das Mitleben mit ihm unser Leben bestimmt.

Nun werden Sie vielleicht sagen: Schön und gut, aber was hat dies alles mit unserer ökumenischen Situation zu tun? Ist dies alles vielleicht nur ein Versuch, sich an den drängenden Problemen vorbeizureden, in denen wir auf praktische Fortschritte, auf konkrete Ergebnisse warten?

Ich antwortete darauf: Das Notwendigste für die Ökumene ist zunächst einmal, daß wir nicht unter dem Säkularisierungsdruck die großen Gemeinsamkeiten fast unvermerkt verlieren, die uns überhaupt zu Christen machen und die uns als Gabe und Auftrag geblieben sind.

Es war der Fehler des konfessionellen Zeitalters, daß wir weithin nur das Trennende gesehen und gar nicht existentiell
wahrgenommen haben, was uns mit den großen Vorgaben der Heiligen Schrift und der altchristlichen
Bekenntnisse gemeinsam ist.

Es ist der große ökumenische Fortschritt der letzten Jahrzehnte, daß uns diese Gemeinsamkeit bewußt geworden ist und daß wir sie im gemeinsamen Beten und Singen, im gemeinsamen Eintreten für das christliche Ethos der Welt gegenüber, im gemeinsamen Zeugnis für den Gott Jesu Christi in dieser Welt als unsere unverlierbare Grundlage erkennen.

Die Gefahr, daß wir sie verlieren, ist leider nicht irreal. Ich möchte zwei Gesichtspunkte hier notieren. Die Geographie des Christentums hat sich in jüngster Zeit tiefgehend verändert und ist dabei, sich weiter zu ändern. Vor einer neuen Form von Christentum, die mit einer ungeheuren und in ihren Formen manchmal beängstigenden missionarischen Dynamik sich ausbreitet, stehen die klassischen Konfessionskirchen oft ratlos da. Es ist ein Christentum mit geringer institutioneller Dichte, mit wenig rationalem und mit noch weniger dogmatischem Gepäck, auch mit geringer
Stabilität.

Dieses weltweite Phänomen stellt uns alle vor die Frage: Was hat diese neue Form von Christentum uns zu sagen, positiv und negativ? Auf jeden Fall stellt es uns neu vor die Frage, was das bleibend Gültige ist und was anders werden kann oder muß  –  vor die Frage unserer gläubigen Grundentscheidung.

Tiefgehender und in unserem Land brennender ist die zweite Herausforderung an die ganze Christenheit, von der ich sprechen möchte: der Kontext der säkularisierten Welt, in dem wir heute als Christen unseren Glauben leben und bezeugen müssen. Die Abwesenheit Gottes in unserer Gesellschaft wird drückender, die Geschichte seiner Offenbarung, von der uns die Schrift erzählt, scheint in einer immer weiter sich entfernenden Vergangenheit angesiedelt.

Muß man dem Säkularisierungsdruck nachgeben, modern werden durch Verdünnung des Glaubens?

Natürlich muß der Glaube heute neu gedacht und vor allem neu gelebt werden, damit er Gegenwart wird. Aber
nicht Verdünnung des Glaubens hilft, sondern nur ihn ganz zu leben in unserem Heute. Dies ist eine
zentrale ökumenische Aufgabe.

Dazu sollten wir uns gegenseitig helfen: tiefer und lebendiger zu glauben. Nicht Taktiken retten uns, retten das Christentum, sondern neu gedachter und neu gelebter Glaube, durch den Christus und mit ihm der lebendige Gott in diese unsere Welt hereintritt. Wie uns die Märtyrer der Nazizeit zueinander geführt und die erste große ökumenische Öffnung bewirkt haben, so ist auch heute der in einer säkularisierten Welt von innen gelebte Glaube die stärkste
ökumenische Kraft, die uns zueinander führt, der Einheit in dem einen Herrn entgegen.

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