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Bewegende Lesung von Ulrike Draesner: „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“

Von Susanne Habel

Derzeit stellt Ulrike Draesner (siehe Foto) ihr viel gerühmtes literarisches Werk „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ bei Lesungen im ganzen deutschen Sprachraum vor. Der Roman schildert das Schicksal zweier Familien aus Schlesien, woher auch die Autorin stammt. Ulrike_Draesner_Habel

Die Autorin verbindet die Geschichte der schlesischen Familie Grolmann mit dem Schicksal der nach dem Zweiten Weltkrieg aus Ostpolen nach Breslau vertriebenen Familie Nienaltowski. Vier Generationen kommen zu Wort Dabei springt die Autorin souverän von Figur zu Figur, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt.

Gleich eingangs sinniert die gegenwärtige „Heldin“ Simone Grolmann, eine erfolgreiche Professorin für Verhaltensforschung bei Primaten, über das Verhalten ihres Vaters Eustachius.

Dieser, ebenfalls ein Primatenforscher und mittlerweile „82 dreiviertel“ Jahre alt, ist ein Kriegskind. Aufgewachsen im niederschlesischen Oels, mußte der dreizehnjährige „Stach“, wie er genannt wurde, im Januar 1945 mit seiner Mutter Lilly und dem behinderten Bruder Emil aus Schlesien in den Westen fliehen.

Noch immer wird er von den Erinnerungen an die Flucht und den Tod seines Bruders heimgesucht. Eustachius ist schon fast klischeehaft traumatisiert, woran auch seine Ehe mit der Bayerin Ines gescheitert ist.

Um die Seelennöte ihres Vaters zu erforschen, der plötzlich auch noch unerklärlicher Weise Schulden macht, heuert Simone einen Psychologen an:

Boris Nienaltowski, selbst deutsch-polnisch-schlesischer Herkunft, hält u.a. Seminare für Kriegsfolgenopfer unter deutschen Vertriebenen und deren Nachkommen im niederschlesischen Kreisau ab.

Boris ist ebenfalls geprägt von dem Heimatverlust seiner Vorfahren, die nach Kriegsende aus dem Osten nach Westpolen vertrieben wurden, von verdrängtem Verlust und unterdrückten Erinnerungen. In inneren Monologen erfährt man von den Bindungs- und Beziehungsproblemen dieser Protagonisten, welche die Angst ihrer Vorfahren quasi internalisiert haben.

Vertriebene: Leidenswege im seelischen Gepäck

Wieweit die Traumatisierung über die Generationen wirkt, deutet die Autorin immer wieder in verschiedenen Szenerien an: Titel-siebenspruenge

So beschreibt sie packend und authentisch eines der Psycho-Seminare ein Kreisau: Jeder der anwesenden 32 Teilnehmer denkt an etwa vier Tote, die er verloren hat; jeder hat das Leiden der verstorbenen Vertreibungs- und Fluchtopfer im seelischen Gepäck.

Denn die Erinnerungen an diesen Horror wirken nach bis in das dritte und vierte Glied: Von der Urgroßmutter, der schlesischen Lehrerin Lilly Grolmann und deren Mann Hannes, über den Sohn Eustachius und seine Tochter Simone („Sima“) bis hin zur Enkelin Esther. 

Das Gleiche trifft auf die polnisch-schlesische Parallel-Familie Nienaltowski zu, von der Lemberger Urgroßmutter Grazyna über deren Tochter Halka, die von einem namenlosen Deutschen den Sohn Boris bekommt, bis hin zu dessen Tochter Jennifer.

Tragischer Heimatverlust bleibt nicht folgenlos

So spiegelt sich das Vertreibungs- und Heimatverlusterlebnis beider Familien, bis sie über das erzählte Erleben zu einer Verbindung finden. Menschliches Verhalten spiegelt wiederum das der Affen; denn auch hochentwickelte Primaten greifen sich gegenseitig an und löschen andere Gruppen aus.

Zur Entstehung des Buches erläuterte Ulrike Draesner bei einer Lesung in München:

„Das Thema fühlte sich nach mehr an als nach einer kurzen Erzählung: so begann meine Motivation zu einem ganzen Buch über Flucht und Vertreibung“. vertriebene_d-Kopie

Nach der Lektüre zahlreicher historiografischer Fachliteratur und der Recherche in polnischen Archiven im vergangenen Jahr begann sie so, einen Roman zu schreiben.

Das Buch weist allerdings auch viele autobiografische Züge auf:

Die väterliche Familie von Ulrike Draesner musste ebenfalls aus Schlesien fliehen: Sie spüre selbst die „Prägung durch die Seelenlandschaft“ der Eltern, wie sie erläuterte: „Eine Atmosphäre der Angst, als Kind übernommen, und ein Lebensgefühl wie auf Abruf und nirgends einheimisch“.

In München, wo sie 1962 geboren wurde, war das Flüchtlingskind Ulrike Draesner auch nicht wirklich heimisch; sie lebt nach einem Jura-, Anglistik- und Germanistikstudium seit 1996 als freie Autorin und Übersetzerin in Berlin. Sie fühle sich sicher nicht bayerisch, meinte Draesner, sondern habe sich eher den reichen kulturellen Raum Ostmitteleuropas als Heimat „angeeignet“.

Das ganze Buch der großartigen Lyrikerin und an Übersetzungen geschulten Autorin ist ein stilistisches Meisterstück. In vieler Hinsicht wirkt es wie eine Sonate in mehreren Sätzen; sanft erklingt mal die eine, mal die andere Stimme der erzählenden Personen, und selbst die Primaten kommen in der von Forschern erdachten Affensprache Yerkish zu Wort.

Buch-Daten: Ulrike Draesner: „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“. Luchterhand-Verlag, München 2014; 303 Seiten, 21,99 Euro. (ISBN: 978-3-630-87372-5)

Unsere Autorin Susanne Habel  –  von ihr stammen auch die ersten beiden Bilder  –   ist Redakteurin und Journalistin in München

Kommentare

Eine Antwort

  1. „… Erinnerungen an diesen Horror wirken nach bis in das dritte und vierte Glied.“:

    Bis „ins dritte und vierte Glied“ wirken sich lt. Bibel „die Sünden der Väter“ aus.

    Das „dritte UND vierte“ muß, um richtig verstanden zu werden, addiert werden: drei und vier ergibt SIEBEN.

    „Bis ins SIEBTE Glied“ aber bedeutet: „Bis zur VOLLENDUNG“ – und das wiederum bedeutet EINE von ZWEI Möglichkeiten:

    Entweder – grundlegende – HEILUNG
    oder Tod.

    Herzlichen Gruß!

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