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„Gezeichnet vom Krieg“: Der freundliche Herr war einst Soldat in Stalingrad

Heute Nacht ist mir Ehre widerfahren…Ein 90-jähriger hat zu mir gesagt “Bischt a nett’s Mädele” und hat mir einen Luftkuß zugeworfen.

Jetzt bin ich doch selbst schon im Großmutteralter und doch war das “Mädele” wie ein Geschenstalingrad-madonnak.

Der alte Herr war dankbar für einen Dienst. Gezeichnet vom Krieg, die Füße in russischer Gefangenschaft erfroren und amputiert, ein Stalingradsoldat, der heimgekehrt ist, einer von 6000.

Als ich ihn kennengelernt habe, war das ein kurzer Dialog. Ich sah seine Füße und fragte: “Russland?”  –  “Stalingrad” sagte er, “Gefangenschaft”  –  und wir schwiegen.

Er hat keine Angehörigen mehr und hat sich in fremde Obhut begeben. Er macht kein großes Wesen um sich, hat sehr bescheidene Bedürfnisse.

Nur eines ist ihm fast lebenswichtig: niemals darf seine Zimmertüre geschlossen werden. Da kann er böse werden, wenn es versehentlich passiert, weil man es halt so macht.

Nein, er will nie wieder eingesperrt sein. Er braucht den Blick nach draußen, er will sehen, wer da kommt.

Ich habe das Glück und die Ehre, zwei Berufe zu haben, die mich den Menschen sehr nah bringen. Eine Zuhörerin bin ich und seit meiner Jugend höre ich dem Krieg zu in allen seinen grausamen Spielarten und Nachwirkungen. Und immer wieder dieses “Stalingrad”.

Der alte Herr ist meine “Nummer 12″. Zwölf Männer von 6000, die einzigen, die der Hölle aus Kriegswahnsinn und Gefangenschaft “dort” entkommen sind. So viele Geschichten leben in mir weiter, Bilder, Gefühle: in Stalingrad gefallen, verwundet, vermisst…Familien.Bildschirmfoto 2014-11-17 um 07.58.29

Warum begegnet es mir in dieser Häufung und jenseits aller Wahrscheinlichkeit?

Auch das nehme ich als Fügung: die Zeitzeugen sind bald nicht mehr da. Dann bleiben nur noch nüchterne Zahlen, Daten, Fakten, “objektiv” und eingefärbt von den Bewertungen der Nachwelt.

Offenbar muß es auch die andere Form der Tradierung von Geschichte geben. Gesichter, Stimmen, Bilder, Empfindungen, Erschütterung.

Nein, “Nummer 12″, ich werde das in mir behalten und erinnern, das Gesicht, die Stimme, den Luftkuß und das Schweigen. Es ist mir eine Ehre.

Ein Beitrag mit Text und Fotos der ANKERPERLENFRAU, die das inhaltlich und graphisch ansprechende Webmagazin „Rosenkranz und Pilgerzeichen“ betreibt: http://rosenkranzbeten.info/

Kommentare

2 Antworten

  1. Mein Stiefgroßvater war auch Spätheimkehrer, 1948 gekommen, er hat immer wieder davon gesprochen.
    Irgendwie nicht anklagend, sondern eher einfach so, ich bin immer schreiend davon gelaufen, wenn er davon angefangen hat.
    Trotzallem oder gerade deshalb, war er weise, sehr weise, obwohl ich das damals nicht begriffen habe und ihn für rückständig hielt, und er hat die Fehler der strahlenden Nachkriegszeit. als alles auf dem Weg ins immer besser, immer schöner, alles mit Geld machbar, und jedem Leid mittels irgendwas begegnen,. gesehen, als die Kirche noch nicht wissen konnte, wohin das alles führt und alle noch in nachkonziliarem „wir ,machen die Welt besser, als wir sie vorgefunden habe, weil wir toll sind!“ vor sich hinschwelgten.
    Der Vater eines angeheirateten Verwandten war auch Spätheimkehrer, ein gebrochener Mann, der nie wieder Boden unter die Füße bekam!
    Ich denke es ist schwierig Erinnerungen zu bewahren im Sinne wie das heute oft gemacht wird, so dass man davor steht und sagt „Nee ach je wie schlimm!“ oder so.
    Es muss im Glauben getragen werden, im Glauben auch angenommen werden.
    Wobei ich glaube in dem Film „das Wunder von Bern!“ ist die Erinnerung ganz gut verarbeitet worden.
    Mir geht der Text sehr nahe!

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