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Die Holzfigur – das besondere Geschenk zum Wiegenfest des Vaters

Von Reinhold Ortner

„Papi, ich mache dir zum Geburtstag ein besonderes Geschenk!“  –  Mit dieser Ankündigung unterbricht mein fünfjähriger Sohn die abendliche Zeitungslektüre.

„Aber es ist noch geheim!“ – „Da bin ich aber gespannt!“ erwidere ich. – „Du wirst dich freuen“, sagt er schon halb abgewandt und verschwindet in seinem Schlafzimmer.

„Welche Überraschung hat er denn vor?“ frage ich meine Frau. – „Es ist zwar noch ein strenges Geheimnis, aber es wird dir doch nicht verborgen bleiben: Er schnitzt dir eine Holzfigur.“ – „Mit seinem Taschenmesser, das ich ihm schenkte?“ – „Ja, und aus einem Stück Haselnuss-Ast.“  ????????

Die Tage vergehen. Einmal kann  ich meinen kleinen Sohn durch Zufall beobachten, wie er an seinem „Werk“ arbeitet. Konzentriert, mit vor Anstrengung rotem Gesicht. Seine des Schnitzens unkundigen Hände mühen sich ab, dem Holz Form und Figur abzuringen.

Mein Geburtstag ist da. Unter meinen Geschenken liegt ein geheimnisvoll eingewickeltes Etwas. Ich packe es als erstes aus. Ich habe die Holzfigur in Händen. Der Kopf ist erkennbar, der Rumpf, andeutungsweise die Beine und Arme. Und mit buntem Filzstift sind Augen, Mund und Nase aufgemalt. Es ist zweifellos nicht das Werk eines Michelangelos.

Mit einem Gemisch aus Erwartung, Stolz über das Vollbrachte, aber auch im Bewusstsein der „Unvollkommenheit“ seines künstlerischen Produkts sieht mich mein Sohn an. „Das bin ich, Papi. Und es ist mein Geschenk für dich“, kommt es mehr zaghaft als selbstbewusst aus seinem Mund.

Ich denke daran, wie er sich abgemüht hat, wie er sich vorgestellt hat, ein „Kunstwerk“ zu schaffen, und wie hinter all dem die Liebe zu seinem Vater stand, dem er eine Freude bereiten wollte. Da verblassen plötzlich alle Skulpturen Michelangelos hinter dieser Holzfigur, und ich schließe meinen kleinen Sohn voll Liebe und Freude in die Arme.

*

„Lieber Vater im Himmel, ist nicht mein Leben auch eine solche Holzfigur, an der ich Tag für Tag ’schnitze‘, um sie Dir eines Tages zu schenken? Da ist mein Wille, ein vollendetes Werk daraus zu machen, indem ich zeitlebens an mir arbeite. Doch wie ungeschickt, schwach und oft hilflos stelle ich mich dabei an.

So vieles missglückt, sieht nicht gut aus oder bleibt unvollendet. Manchmal bin ich verzagt und drohe den Mut zu verlieren. Und da möchte ich die „Holzfigur“, die mein Leben darstellt, am liebsten verstecken. Denn ich stelle fest, dass mein Leben allem Anschein nach kein Kunstwerk wird. Doch dann fasse ich immer wieder Mut und arbeite weiter an mir. Das Vertrauen darauf, dass du mir ins Herz siehst, gibt mir neue Kraft. 30037_Ortner_Liebe_schenken_bezug.indd

Herr, du kennst meine Unvollkommenheit besser als ich selbst. Du siehst mein Bemühen, meinen guten Willen, meine immer neuen Ansätze. Du weißt, dass es oft nicht gelingt, dir meine Liebe und Dankbarkeit besser zum Ausdruck zu bringen.

So werde ich am Abend meines Erdendaseins zaghaft vor Dir stehen und Dir mein Leben als Geschenk mitbringen. Ich werde im Bewusstsein der sichtbaren Mängel dieses meines ’selbstgeschnitzten‘ Lebensbildes sagen: ‚Das bin ich, Vater!‘  – Und während ich es in Deine Hände lege, bin ich voll Hoffnung und Vertrauen, dass Du nicht die Unvollkommenheit des äußeren Erscheinungsbildes wertest, sondern alle gute Absicht, jeden neuen Ansatz und alle Liebe, die dahinterstehen.“

Prof. Dr. Reinhold Ortner ist katholischer Pädagoge und Publizist; zuletzt erschien sein fundiertes und praxisnahes Erziehungsbuch LIEBE schenken (siehe Foto) im Media-Maria-Verlag

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