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Die Vertreibung aus Masuren, dem Paradies meiner Kindheit

Erlebnisbericht von Christel Fraund

                                                 O Heimathaus am stillen  See,                                       
                                                 Ihr Wälder in Masuren,                                                       
                                                 Die ich verließ bei Nacht und Schnee;                                   
                                                 Im fremden Land ich klagend fleh:
                                                 Laßt mich zurück ins Heimatland,                                    
                                                 Ins Land, wo meine Wiege stand,                                   
                                                 Zu meiner Väter Spuren.                                                    
                                                 Es war mein Haus, mein Wald, mein See  – 
                                                 Es gibt nur ein Masuren!                                                   

Immer  –  nach so vielen Jahren noch  –  muß ich die Tränen unterdrücken, wenn ich an meine Heimat denke. Ich sehe mich, wie ich im Licht der Sonne mit meinem geliebten Brüderchen im Garten spiele.
Der Flieder mit seinen lila Blütendolden schmiegte sich leicht an die Wand des Hauses. Nicht weit davon der große Apfelbaum.
Wie oft saß ich dort in der Schaukel, die mein Vater angebracht hatte, und meine Großmutter sang beim Schwingen der Schaukel ein Lied; ihre Lieder nahm ich tief in meine Seele auf und habe sie nie vergessen.
Das kleine Dorf war ein Paradies für mich. Das Klappern der Störche hoch auf den Dächern war weithin zu hören  –  und unweit des Hauses glitzerte der See, von sanften Hügeln umgeben.
Es war herrlich für uns Kinder, sich an heißen Tagen im Sand zu wälzen und im Wasser zu tummeln.
Wenn mein Vater vom Wehrmachtsurlaub nach Hause kam, brachte er stets etwas Nettes mit, eine Kette oder ein schönes Kleidchen. Ja, das waren immer besondere Tage für uns alle.
Da wir Laden, Gasthof und Land zu versorgen hatten, war Großmutter die Köchin für uns alle. Oft saß ich bei  ihr am grünen Herd und schaute zu, wie sie die frisch gebackenen Brote und Brötchen herausholte.
Wenn ich meine Mutter suchte, wußte ich, wo sie zu finden war. Sie stand, die Kunden bedienend, hinter der Ladentheke. Im Winter strömten die farbfrohen Kachelöfen wohlige Wärme aus.

Gleich hinterm Haus standen zwei Oleander mit ihren rosaroten Blüten. Von hier aus fiel der Blick auf die große eiserne Wasserpumpe. Man hörte gackernde Hühner, schnatternde Gänse und zwischendurch bellte der Hofhund.
Es schien, ob alles für ewig währte.

Doch dann kam die VERTREIBUNG                 

Die Nacht war finster, nur hier und da ließ der Mond seine Strahlen spielend über  den Schnee gleiten. An mein Ohr drangen Geräusche von Wagen und stampfenden Pferden.
Was dies zu bedeuten hatte, wußte ich, denn aus den Reden meiner Mutter und anderer Leute, die kamen, um sich mit Speis und Trank zu stärken, konnte ich wahrnehmen, daß Schreckliches passiert sein müsse.
Wie oft habe ich mit weiten Augen den vielen eingemummten Menschen mit ihren Planwagen, die an unserem Fenster vorbeizogen, nachgeblickt.
Mir schien es, als sei der Augenblick auch für uns nun gekommen. Alles war geheimnisvoll. Meine Mutter  packte schweigend Lebensmittel, Teller und Tassen in eine große Kiste. Ich traute mich auch nicht, ein Wort zu sagen.
Die Tür wurde auf einmal aufgerissen, mein Opa kam erregt hereingestürzt und sagte: „Wir müssen sofort das Dorf verlassen, seid ihr schon fertig mit dem Packen?“
Instinktiv nahm ich die Puppenstühlchen, die ich gerade liegen sah und schob sie weit unters Bett. Es sollte keiner meine Stühlchen mitnehmen. Dann nahmen meine Mutter, mein Bruder und ich selber Abschied von meiner Oma, der Mutter meines Vaters.
Sie wollte nicht mitkommen und das Haus verlassen. Ich reichte ihr meine Hände und glaubte, Tränen in ihren Augen zu erblicken. Mein Herz war auf einmal unendlich traurig.
Ich wurde in einen Wagen gepackt  –  und die Dunkelheit verschluckte uns.
Die nächsten Stunden und Tage habe ich nur verschwommen in Erinnerung. Ich weiß nur noch, daß wir (meine Mutter mit uns beiden Kindern, meine Tante und die Eltern meiner Mutter) in Heiligenbeil am Frischen Haff ankamen.
Dort habe ich zum ersten Mal das beängstigende Heulen der Sirenen und den bedrohlichen Lärm von Tieffliegern gehört. Um den Russen zu entkommen, blieb nur der Weg mit dem Pferdewagen über das gefrorene Frische Haff nach Pillau.
An manchen Stellen begann das Eis schon zu tauen und war brüchig. Es bedurfte unseres ganzen Mutes, hier weiter zu fahren. Über uns russische Jagdbomber. Der Einschlag der Bomben war weithin zu hören.
Ein erschütternder Anblick waren für mich die im Eis samt Mensch und Tier eingebrochenen Fuhrwerke. Überall lagen Tote, Flüchtlinge und Soldaten auf dem Eis.
Völlig erschöpft und müde kamen wir schließlich in Pillau  an. Insgesamt treckten 450.000 Flüchtlinge über das Eis nach Danzig, Gotenhafen und Pillau.
In Pillau drängten sich dicht  aneinander die Flüchtlinge aus Königsberg und der Provinz. Die Gebäude der Stadt waren in allen Räumen über und über belegt.
Die Sirenen heulten Tag  und Nacht –  und die Russen bombardierten die Stadt gnadenlos. Es gab viele Tote.
Wir mußten unsere gesamte Habe, die wir bis hierher gerettet hatten, zurücklassen, auch Pferd und Wagen. Meine Mutter durfte nur ein kleines Köfferchen mit Papieren und Fotos mitnehmen. Mein Püppchen umklammerte ich fest, ich wollte es nicht verlieren.
Die Schiffe der Kriegsmarine standen inzwischen  bereit, um uns Flüchtlinge nach Dänemark in Sicherheit zu bringen. Der Andrang zu den Schiffen war ungeheuer.
Ich hatte Fetzen vom Gespräch meiner Mutter mit den Großeltern mitbekommen.
Mein Opa sollte zum Volkssturm eingezogen werden, obwohl er schon sehr alt war. Dies hat uns sehr traurig gestimmt. Wie er von uns ging, haben wir ihm wehmütig nachgeschaut.

Unsere Flucht mit der Gustloff

Dann war es soweit und wir durften endlich das große Schiff besteigen. Es war die Gustloff, ein riesiges Passagierschiff. Mit über 5000 Menschen  an Bord war  es total überfüllt.
Wir achteten darauf, daß wir uns nicht aus den Augen verloren. Plötzlich, wir konnten es kaum fassen, stand mein Großvater vor uns. Die Freude war groß! Nun erzählte er uns, wie er es geschafft hatte, an Deck zu kommen: er war auf den Gepäckkran geklettert und hat sich dort versteckt. So wurde er mit hochgezogen. Zum Glück hat ihn niemand entdeckt. Nun wurden wir  von einem Soldaten in eine Kabine geführt, um uns auszuruhen.
Es war sehr heiß und stickig auf dem Schiff. Unvermittelt wurden Schwimmwesten verteilt. Wir bekamen Angst! Meine Mutter sagte: „Nur nicht im Wasser sterben!“ Aber Gott hatte Erbarmen mit uns. Unser Schiff wurde weder von Bomben noch von Torpedos getroffen.
Mein Brüderchen bekam nun hohes Fieber: Wir waren sehr in Sorge  um ihn.
Dann hielt das Schiff in Saßnitz, der Hafenstadt auf Rügen. Ein Offizier kam und nahm meinen schwerkranken Bruder auf den Arm, um ihn nach Rügen ins   Krankenhaus zu bringen. Meine Mutter ging ihm nach und ich schrie hinter ihr: „Mutti,  Mutti!“  –  Darauf drehte sie sich nach mir um.
Dazu kam, daß die  Menschenmenge uns zurückdrängte, so daß wir den Offizier aus den Augen verloren. Wir hörten nur noch, daß die Anker gehievt wurden und das Schiff sich in Bewegung setzte.
Die Gustloff wurde dann bei der nächsten Fahrt von russischen U-Booten torpediert und sank mit 5000 Menschen an Bord. Es wurden noch weitere Schiffe versenkt. Insgesamt  fanden ca 15.000 Flüchtlinge den Tod, vor allem Kinder und alte Menschen.

Unsere Ankunft in Dänemark

In Dänemark wurden wir in einem Schulgebäude untergebracht. Dort angekommen, bekam ich hohes Fieber. Ein Arzt kam und hüllte mich in ein nasses Laken. Wie lange ich krank war, habe ich nicht mehr in Erinnerung.
Eine dänische Frau kümmerte sich rührend um uns. Zur Strafe wurde ihr das Haar kurz geschoren, so daß sie nur noch mit einem Kopftuch umherlief.
Soldaten der deutschen Wehrmacht, die dort einquartiert war, kümmerten sich um uns. Doch sie wurden von den Dänen als Feinde angesehen. Dieser Umstand bewirkte, daß wir ebenfalls als solche empfunden und nicht geliebt wurden.
Eines Tages erhielten wir einen Brief vom Krankenhaus aus Rügen. Mein geliebtes Brüderchen hat die Krankheit nicht überlebt, sein Herz hörte auf zu schlagen.
Ich nahm mein Püppchen in den Arm und lief nach draußen. Mein Herz war schwer und sehr traurig. Da mein Bruder trotz Krankheit noch seinen Namen und sein Geburtsdatum sagen konnte, bestand die Möglichkeit, uns dieses Schreiben zu übermitteln. Horst war zwei Jahre älter als ich und ein sensibler und intelligenter Junge.
Dann kam im Mai 1945 die Kapitulation, und wir wurden interniert und in ein Barackenlager gebracht. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Soldaten der deutschen Wehrmacht rd. 200.000 Frauen, Kinder und Alte über die Ostsee nach Dänemark gerettet.
Wir kamen zunächst in ein kleineres Lager. Ringsum patroullierten dänische Soldaten mit Gewehren.  Versuchte jemand, durch den Stacheldraht zu entkommen, wurde auf ihn geschossen.
Unsere Familie wurde in einen Tiefbunker einquartiert. Wir wurden nur notdürftig mit Essen versorgt. Mittags standen wir in  einer Reihe und nahmen das Essen in einem Blechtopf in Empfang. Ich erinnere mich nur an die wässrige Steckrübensuppe, die ich hinunterwürgte. Ich war völlig abgemagert.
Viele im Lager waren so verzweifelt, daß sie sich in den Toiletten erhängten. Daraufhin wurden die Türen ausgehängt.
Die Vertriebenen organisierten einen Schulunterricht für die Kinder, der zunächst unter freiem Himmel stattfand.
Später wurden wir in ein größeres Lager verlegt, wir kamen in eine Baracke mit 30 Personen in einem Raum; der Schulunterricht wurde eben falls in eine Baracke verlegt.
Im Winter wurde von den Lagerinsassen eine Weihnachtsfeier veranstaltet; ich wurde als Engel ausgewählt und durfte beim Krippenspiel den großen Stern tragen: ein kleiner Höhepunkt im sonst so trostlosen Lagerleben.
1948 wurden wir in die Bundesrepublik Deutschland entlassen und hier von den Großeltern und der Tante getrennt.
Ich kam mit meiner Mutter in eine kleine Stadt, wo wir von der Polizei in ein Bauernhaus zwangseingewiesen wurden.

Und wieder ist es Winter. 
Wir schreiben das Jahr 1950. 
Drei gehen durch den Schnee.
Der Vater war aus dem fernen Sibirien gekommen.
Der Weg ging weiter;
der aber über den Wolken wohnt,
hat uns nicht verlassen.

Christel Fraund ist die Ehefrau von Dr. Hans-Dieter Fraund, einem evangelikalen Missionar und Pastor i.R.
Mailanschrift: drfraundmin@web.de

Fotos: Dr. Bernd F. Pelz

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